Im dritten Teil, nach dem Tod und der Trauer, kommen wir zur Angst. Die Angst ist uralt. Tief in uns verwurzelt. Wir erfuhren die Angst lange, bevor wir überhaupt versuchten zu ergründen, was Tod bedeutet, und wir lernten, mit der Trauer umzugehen. Die Angst begleitet uns seit unserer Geburt. Vielleicht war sie sogar die erste Emotion, die wir in unserem Leben empfunden haben, als wir aus der ultimativen Geborgenheit und Wärme in eine grelle und kalte Realität eingetreten sind.
Die ursprüngliche Angst, die in uns weiterlebt
Die Angst ist unmittelbar. Ein unbekanntes Geräusch in der Dunkelheit und unser Herz schlägt unwillkürlich schneller – ein uraltes Reiz-Reaktions-Schema, fest einkodiert in unserer DNA, erwacht und agiert autonom. Die Nackenhaare stellen sich auf. Bevor wir es richtig einordnen können, ist unser Körper schon längst bereit – für Kampf oder Flucht. Millionen Jahre Evolution haben nicht nur ihre Spuren hinterlassen, sondern auch die Angst als einen Überlebensmechanismus fest in uns etabliert. Einen Mechanismus, der evolutionär hilfreich war, der aber auch so tief in uns verwurzelt ist, dass wir ihn selbst mit aller Ratio kaum überwinden können. Das ist die Urangst.
Ein Artefakt unserer DNA, die uns aus den Savannen, wo wir anfingen, Menschen zu sein, bis in den heutigen Großstadtdschungel begleitet. In der Savanne war es das lauernde Raubtier im Gestrüpp. Heute begegnen wir Raubtieren bestenfalls im Zoo. Allein, unser Körper hat das noch nicht gelernt. Wir reagieren auf die E-Mail von unseren Vorgesetzten mit den gleichen Mustern wie auf den Ruf einer Raubkatze in der Savanne: mit Angriff oder Flucht.
Die Stille nach einer WhatsApp-Nachricht ist genauso erdrückend und beängstigend wie es die Stille in der Savanne war, als alles leise wurde und sich versteckte, weil eine Raubkatze auf der Lauer lag.
Es ist paradox, aber wir sind Steinzeitmenschen, die in einer digitalen Welt leben und mit einem Alarmsystem ausgestattet sind, das für Gefahren ausgelegt ist, die es heute nicht mehr gibt. Der Unterschied: Statt Faustkeilen benutzen wir dessen modernes Pendant – ein Smartphone.
Wir leben in einem Umfeld, in dem viele von uns – glücklicherweise – nicht mehr täglich um unser Überleben kämpfen müssen. Für die meisten von uns gilt: Die großen Bedrohungen unserer Zeit sind weit weniger disruptiv als die Begegnung mit einem Säbelzahntiger. Viele Bedrohungen unserer Zeit vollziehen sich langsam. Sie sind abstrakt. Zu weit weg, um unsere Spinnensinne direkt zu triggern.
Die Angst, die keinen Namen hat
Manchmal fällt es uns schwer, genau einzuordnen, wovor wir uns fürchten. Da ist nur dieses unbestimmte, dieses mulmige Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Eine Unruhe, die unter dem Radar bleibt: eine Vorahnung, ein Flattern im Bauch. Die Ahnung, die Sorge, dass etwas Schlimmes passieren wird, ohne zu wissen, was.
Diese namenlose Angst ist vielleicht die quälendste. Gegen eine konkrete Bedrohung können wir vorgehen. Vor einer echten Gefahr können wir fliehen und uns in Sicherheit bringen. Aber was tun wir mit dieser diffusen Bedrohung, die überall und nirgends ist?
In Frankreich nennt man dieses Gefühl „l’angoisse“. Die Existenzialisten machten daraus eine Philosophie: die Angst vor der Freiheit, vor der Verantwortung, vor der eigenen Existenz.
In unserer Zeit der permanenten Unsicherheit, der Ökonomie der Angst, weil sich schlechte Nachrichten einfacher verkaufen als gute, wird diese namenlose Angst zu einem Grundthema unseres Lebens. Wird mein Job noch da sein? Wird die Welt, wie wir sie kennen, noch existieren, wenn unsere Kinder erwachsen sind? Wird meine Beziehung halten?
Die Ambiguität ist überall, und sie macht uns Angst.
Die irrationalen Ängste
Auch diese Art von Ängsten gibt es: die, die keinen Sinn ergeben, aber deshalb nicht weniger real sind. Phobien, die wir nicht erklären und noch schwerer überwinden können. Die Angst vor Spinnen, die in den hiesigen Breitengraden überwiegend wirklich harmlos sind. Die Angst vor geschlossenen Räumen. Die Angst vor dem freien Himmel. Die Angst vor Clowns. Rein rational können wir erkennen, dass diese Ängste irrational sind. Der Fahrstuhl ist sicherer als die Treppe. Das Flugzeug ist sicherer als das Auto. Der Weberknecht in der Zimmerecke kann uns nichts anhaben. All das wissen wir und fürchten uns trotzdem.
Phobien machen uns zu Gefangenen unserer eigenen Psyche. Wir vermeiden diese Ängste, umgehen sie so gut es geht, und am Ende haben wir unser ganzes Leben so arrangiert, dass wir diesen irrationalen Ängsten hoffentlich nie mehr begegnen müssen. Steigen viele Stufen hinauf, statt den Aufzug zu nehmen und reden uns ein, dass es gut für unsere Fitness ist. Nehmen stundenlange Autofahrten in Kauf, weil wir dann flexibler sind als mit dem Flugzeug. Haben ein Leben in Vermeidung rationalisiert.
Und all das, um nicht nur der Angst, sondern auch der Scham zu entgehen. Um der Angst zu entgehen, dass andere unsere Angst wahrnehmen. Vielleicht ist auch das ein Teil unserer Steinzeitmentalität? Die Sorge darum, als schwach wahrgenommen zu werden? Die Angst vor der Angst wird zur Meta-Angst. Und diese Meta-Angst macht es uns noch schwerer, unsere Reaktionschemata zu durchbrechen.
Die Verlustängste
Ab den ersten Erfahrungen mit Tod und Trauer ist sie unsere Begleiterin im Leben: die Angst, das zu verlieren, was uns am Herzen liegt. Die Menschen, die uns wichtig sind. Die Orte, die für uns Heimat sind. Die Fähigkeiten, die uns definieren.
Auch das ist paradox: Die Verlustangst folgt der Liebe wie ein Schatten. Je mehr wir lieben, desto mehr fürchten wir den Verlust. Eltern, die ihre Kinder keine Sekunde aus den Augen lassen können. Partner, die jeden Moment der Trennung als eine Bedrohung empfinden. Die Angst, dass das Telefon klingelt und wir schlechte Nachrichten erhalten. Manchmal ist die Angst vor dem antizipierten Verlust so groß, dass wir uns erst gar nicht auf diese Lebensumstände einlassen. Wir bleiben allein. Damit sind wir sicher – oder doch nicht? Oder wir halten fest, was uns so viel bedeutet, und erdrücken es durch unsere Umklammerung, die allein aus Verlustängsten und dem daraus folgenden Kontrollstreben folgt – und erreichen oft genau das Gegenteil von dem, was wir beabsichtigten. Ein Leben, in dem wir keine Nähe zulassen, um am Ende nicht verletzt zu werden. In dem wir nicht lieben, um den geliebten Menschen nicht verlieren zu können. Ein Leben auf Distanz, sicher in seiner Einsamkeit – we play it safe!
Aber ist ein Leben ohne jede Bindung doch nur vermeintlich der sichere Hafen, nach dem wir streben? Oder, was wahrscheinlicher ist, verlieren wir aus Angst vor dem Verlust das Leben selbst?
Die individuelle Angst vor uns
Vielleicht ist die tiefsitzendste Angst die vor uns selbst. Die Angst vor dem, was in uns steckt. Vor unserer eigenen Dunkelheit, unseren Abgründen, unseren unterdrückten Impulsen. Vor allem, wenn sie mit dem wohl kuratierten Bild, das wir nach außen zeigen, auf einem fundamentalen Kollisionskurs liegen. Die Sorge darum, wie dick und tragfähig diese Schicht aus schwarzem Eis ist, die das, was wir unsere Persönlichkeit nennen, von dem trennt, was pures Chaos ist?
Und auf der anderen Seite die Angst vor unserer eigenen Größe. Vor dem, was wir vollbringen könnten, wenn wir uns trauen würden, die Angst zu überwinden. Die Angst vor unserem Potenzial und vor der Verantwortung, die wir uns damit aufladen würden. Marianne Williamson schrieb: „Unsere tiefste Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind. Unsere tiefste Angst ist, dass wir unermesslich machtvoll sind.“
Erfolg kann genauso ängstigend sein wie Versagen. Sichtbar zu werden, kann sich genauso bedrohlich anfühlen wie die Sorge darum, ein Leben lang unsichtbar zu bleiben. Die Angst, aus der Masse herauszustechen und damit angreifbar zu werden. Die Angst vor Neid, vor Erwartungen, vor der vermeintlichen Einsamkeit des Erfolgs.
Die soziale Angst
Weil wir soziale Wesen sind, liegen unsere größten Ängste oft darin, wie andere Menschen auf uns reagieren. Steinzeitlich gedacht: Gehören wir dazu – zu unserer Sippe? Haben wir die Sorge, ausgestoßen zu werden und uns dann selbst und allein behaupten zu müssen? Sind nicht gut genug und entsprechen nicht den Anforderungen, die an uns gestellt werden, und werden deshalb zurückgelassen, um die Wölfe abzulenken?
Vielleicht war sie nie präsenter als heute, die Angst vor Bewertung. Vor Ablehnung. Vor Blamage. Die Angst davor, dass alle uns anstarren. Die Angst davor, etwas Falsches zu sagen. Die Angst vor der Stille nach unseren Worten.
Warum heute? Weil Social Media genau diese Ängste multipliziert. Jeder Post ist eine potenzielle Blamage. Jedes Foto eine Chance auf abwertende Kommentare. Jedes nicht gesehene Bild eine Chance, etwas zu verpassen. Die Angst, nicht genügend Likes zu bekommen. Die Angst davor, zurückzufallen in einem Wettbewerb, den wir nicht gewinnen können. Die Angst davor, dass unser kuratiertes Leben, das wir auf Social Media präsentieren, als Fake entlarvt wird.
Die Angst vor der Angst
Die ultimative Meta-Angst ist die Angst vor der Angst selbst. Panikattacken, die uns aus dem Nichts überrumpeln. Und die Gewissheit, dass genau das jederzeit wieder geschehen kann. Die Angst-vor-der-Angst-vor-der-Angst vor dem nächsten Angstanfall.
Und auch hier steht uns unsere Urzeit-DNA im Weg. Wir beginnen zu vermeiden. Situationen, in denen wir Angst haben, die uns nicht geheuer sind. Der Kreis, der wahrgenommenen Sicherheit schrumpft. Wird jeden Tag etwas kleiner. Und damit schrumpft unser Leben, indem es sich an das sichere Terrain anpasst. Und die Angst? Der geht es gut, denn sie kann außerhalb der wohl ausgeleuchteten Areale unseres Daseins in diffusen Schatten ins Unendliche wachsen – wenn wir das zulassen. Dazu müssen wir die Antizipation überwinden. Den Zyklus durchbrechen, in dem wir in Gedanken leiden und tausend Tode sterben oder mit Katastrophen zurechtkommen müssen, die nie eintreten werden. Mark Twain soll gesagt haben: „Ich hatte in meinem Leben viele Sorgen und Ängste, die meisten davon sind nie eingetreten.“
Wenn die Angst uns beherrscht
All das ist leicht gesagt, wenn man keine Angst hat oder die Schwelle, ab der Ängste von einem simplen Missgefühl zu tatsächlichen Ängsten werden, hoch genug ist. Manchmal ist die wahrgenommene Angst einfach so groß, dass sie beginnt, unser gesamtes Leben zu dominieren. Dann bleiben wir lieber zuhause als uns nach draußen in die Welt zu wagen. Vermeiden den täglichen Kampf, unsere Ängste zu überwinden. Dann lähmt die Angst, nimmt uns die Luft und macht uns zu ihrer Geisel.
Wichtig ist: Das ist keine Schwäche. Es ist eine Krankheit, die behandelt werden kann. Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Millionen Menschen kämpfen täglich damit.
Hilfe zu suchen, ist kein Zeichen von Versagen. Es ist ein Akt des Mutes. Sich der Angst zu stellen, mit professioneller Unterstützung, in Therapie, manchmal mit medikamentöser Unterstützung – das ist der erste Schritt zurück in ein Leben, in dem das Atmen wieder leichtfällt.
Mit der Angst leben
Wir können Ängste nicht vollständig überwinden. Sie sind ein wichtiger Teil unserer Natur und einer der wichtigsten Gründe, weshalb wir es als Homo sapiens aus der Steppe in die Neuzeit geschafft haben. Ängste sind ein Teil unserer Überlebensstrategie, aber noch wichtiger: Sie definieren uns als Menschen. Die Frage danach, wie wir unsere Ängste loswerden, ist deshalb die falsche. Richtiger wäre es wahrscheinlich, wie wir ein gutes Leben mit all unseren Ängsten führen können.
Vielleicht fängt alles damit an, unsere Ängste anzuerkennen? Die Angst nicht als einen Feind, sondern als eine Wächterin zu sehen, die uns warnt. Auch wenn sie dabei oft falschen Alarm schlägt, ist ihre Absicht aufrichtig. Schließlich hat die Angst einen großen Anteil daran, dass wir als Gattung überlebt haben, und sie verdient unseren Respekt dafür, auch wenn sie uns manchmal schwer irritiert.
Eine weitere Fehleinschätzung ist vielleicht, Mut als die Abwesenheit von Angst zu definieren. Wirklicher Mut hat wenig mit Ignoranz oder Dummheit zu tun. Mutig ist es, trotz der Angst weiterzumachen. Wir sind alle Superhelden, weil wir jeden Tag aufstehen, obwohl wir wissen, dass da draußen jeden Tag tausend Dinge fürchterlich schiefgehen können. Wir sind mutig, weil wir uns verletzlich zeigen, wohl wissend, dass wir damit eine offene Flanke bieten. Wir sind mutig, weil wir vertrauen. In uns. In andere. Wir überwinden Ängste. Jeden Tag.
So gesehen ist das vielleicht der eigentliche Triumph über die Angst, den wir gar nicht bewusst wahrnehmen: Wir leben trotzdem. Wir lieben trotzdem. Wir bestehen trotzdem, was wir sind. Weil wir der Angst nicht auf Dauer die Kontrolle überlassen, auch wenn wir sie nicht besiegen können.
Die Angst wird bleiben. Wird uns unser Leben lang begleiten. Aber deshalb muss sie noch lange nicht definieren, wer wir sind.
Hilfe
Wenn die Angst Ihr Leben einschränkt, wenn Panikattacken Sie lähmen oder wenn Ängste Ihren Alltag bestimmen, suchen Sie professionelle Hilfe. Die Telefonseelsorge ist erreichbar unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222. Bei akuten Angstattacken kann auch der ärztliche Bereitschaftsdienst unter 116 117 helfen.