nachgereift Gedanken, die erst noch zu Ende gedacht werden müssen

Sieben: Vom Lernen

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Nach dem Tod, der Trauer, der Angst, der Liebe, der Vergebung und dem Sinn ist es jetzt Zeit für das Lernen.

Das ist der letzte Teil der Serie über existenzialistische Themen, und genauso gut hätte es auch der erste sein können.

Lernen hat kein Ende, nur einen Anfang. Lernen, oder die Chance darauf, hört nie auf, außer wir hören auf, oder wir verschließen uns dem Lernen und bleiben bei dem, was wir schon wissen.

Lernen?

Die üblichen Verdächtigen, auch Sokrates, haben sich mit dem Thema beschäftigt, um dann zu verkünden: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Das ist sicherlich philosophisch wertvoll, aber ist es auch hilfreich?

Später, in den 90ern, hat Alanis Morissette das lebensnäher formuliert.

You live, you learn
You love, you learn
You cry, you learn
You lose, you learn
You bleed, you learn
You scream, you learn

Alanis Morissette / You Learn / Jagged Little Pill / 1995

Wahrscheinlich haben beide auf ihre eigene Weise recht: Sokrates mit seiner Erkenntnis, dass wir, je mehr wir lernen, erkennen, wie wenig wir eigentlich wissen. Was keine Niederlage ist, sondern vielmehr ein Triumph der Neugierde über unsere Selbstgefälligkeit.

Und Alanis zog lebensnahe Vergleiche und benannte einige der wichtigsten Chancen, die sich im Leben ergeben, um etwas über uns, andere und die Welt, in der wir leben, zu lernen.

Beide haben gemeinsam, dass es immer die Chance gibt, etwas zu lernen – wenn wir die Augen nicht dafür verschließen.

Lernen!

Solange wir neugierig bleiben, lernen wir auch. Lassen neue Dinge und Erfahrungen in unser Leben und bereichern das, was uns ausmacht: unseren Geist.

Kinder lernen, ohne groß darüber nachzudenken. Zuerst die Grundlagen. Krabbeln als erste Form der Fortbewegung. Plötzlich stehen sie, indem sie sich an Möbeln nach oben hangeln. Schließlich laufen sie, weil sie gelernt haben, kontrolliert zu fallen. Sprechen durch Plappern. Lieben durch Nachahmen. Alles ist neu. Alles ist noch unerforscht und damit ist jede Interaktion mit der Welt ein Lernen.

Kleinkinder saugen die Erfahrungen, die sie in der Welt machen, auf wie Schwämme und hinterfragen nie, ob es sich lohnt, dies oder das zu lernen.

Das kindliche Lernen verändert sich drastisch, sobald wir mit dem Bildungssystem konfrontiert werden. Lernen ist jetzt nicht mehr primär von Neugierde getrieben. Lernen wird jetzt zu einer Pflicht. Was gelehrt wird und in welcher Form, ist genau vordefiniert. Und nicht wenige sind scheinbar so frustriert von dieser Erfahrung, dass sie direkt nach ihrem Abschluss jede weitere Form von Bildung auf unbestimmte Zeit verschieben.

Das Lernen hört auf. Nicht komplett, aber merklich. Auch weil wir schließlich „erwachsen“ sind, glauben wir, dass wir unsere Antworten auf viele Fragen des Lebens bereits gefunden haben. Statt weiterzulernen, verfallen wir in Routinen. Oder plappern nach, was andere uns vordenken.

Das ist eine schöne Analogie für viele Beziehungen: Wir kennen unser Gegenüber nach all der Zeit schließlich gut genug und haben zu einem routinierten Umgang miteinander gefunden. Dabei ist es ganz gleich, ob sich unser Gegenüber – oder wir uns selbst – in irgendeiner Form weiterentwickeln. Statt der Chance, mehr über diese Entwicklung zu erfahren, setzen wir auf Monotonie und Routine, bis wir an einen Punkt kommen, an dem unsere Unwissenheit offensichtlich wird und Beziehungen auseinandergehen. „You love, you learn. You cry, you learn. You lose, you learn.“ um bei Alanis zu bleiben.

Nicht mehr aktiv weiterzulernen, kann auch attraktiv sein. Kein Grund, Routinen zu ändern. Kein Grund, neue oder gar eigene Antworten zu suchen. Und schon gar kein Grund, die eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Lernen wird zum Ausnahmezustand oder findet nur noch im Ausnahmezustand statt.

Was schade ist, weil Lernen das ist, was uns als Menschen auszeichnet. Es definiert uns gewissermaßen. Elefanten können sich zwar besser erinnern und Oktopusse lösen komplexe Probleme, aber wir Menschen haben eine Superkraft: aus Erfahrungen zu lernen, die nicht unsere eigenen sind. Aus Büchern. Aus Geschichten. Aus den Fehlern und Erfolgen anderer.

Demut

Um zu Sokrates zurückzukehren und dem Wissen um unsere Unwissenheit. Es gehört auch Demut zum Lernen. Eines Tages kommt die Einsicht: Ich weiß es schlicht nicht. Oder ich lag falsch. Oder ich muss umdenken.

Und das ist unbequem, weil es an unserem Ego kratzt.

Schließlich wollen wir alle kompetent sein und nicht ahnungslos. Wir wollen alle alles wissen. Wir wollen Antworten geben, nicht noch mehr Fragen stellen. Wir wollen vielleicht sogar lehren, aber weiter lernen?

Was aber, wenn genau darin unsere größte Stärke liegt? Was, wenn „Ich weiß es nicht“ (würde es aber gerne wissen) ein Anfang ist, der uns zu neuen Erkenntnissen führt?

Wenn die Bereitschaft, es uns unbequem zu machen und zu lernen, wichtiger ist, als allein damit auszukommen, was wir bereits gemeistert haben?

Lebenslänglich

Die gute oder schlechte Nachricht, je nach persönlicher Disposition: Das Urteil lautet lebenslänglich. Was, wenn unsere größte Stärke darin liegt, unsere Schwächen zu erkennen und sie zu nutzen? Was, wenn „Ich weiß es nicht“ der Anfang aller Weisheit ist? Wenn die Bereitschaft zu lernen wichtiger ist, als nur auf das zu bauen, was wir bereits wissen?

Wahre Meister sind ewige Schüler. Für sie eröffnet jeder Gipfel des Wissens, den sie besteigen, nur die Aussicht auf andere Berge, die noch höher sind. Sie meistern die paradoxe Erkenntnis, dass jede Antwort neue Fragen gebiert. Sie verstehen, dass Lernen kein abgeschlossener Zustand ist, sondern ein Prozess, der uns lebenslänglich begleitet.

Anfängergeist

Im Zen-Buddhismus gibt es dafür einen Begriff: Shoshin – der Anfängergeist. Die Kunst, jeder Situation zu begegnen, als wäre es das erste Mal. Ohne die Last des Vorwissens. Ohne die Arroganz der Erfahrung. Mit offenen Augen, offenem Herzen, offenem Geist und entsprechend verwundbar.

„In the beginner’s mind there are many possibilities, but in the expert’s mind there are few“

Shunryu Suzuki

Der Experte sieht nur, was er schon kennt. Der Anfänger sieht, was ist.

Vielleicht würde es unserer westlichen Perspektive manchmal guttun, diesen Anfängergeist zu kultivieren. Ewige Schüler zu bleiben. Hinterfragen, was wir schon tausendmal gemacht haben, weil es immer die Chance auf neue Entdeckungen und damit auch darauf, etwas Neues zu lernen gibt.

Was können wir über uns lernen?

Das kommt wahrscheinlich darauf an, wie unvoreingenommen wir uns dem Thema annähern. Denn wir haben doch alle den Ehrgeiz, perfekt zu sein, oder? Aber wer sind wir wirklich, wenn niemand zuschaut? Was würden wir wollen, wenn wir nichts beweisen müssten – weder uns noch anderen? Was könnten wir erreichen, wenn wir uns nur trauen würden?

Was wäre, wenn wir nicht in unserer eigenen Perspektive gefangen wären und nicht der voreingenommene Zeuge unserer selbst wären? Wenn wir nicht relativieren, beschönigen, verdrängen oder rationalisieren müssten, um unser Ego zu schützen?

Denn wenn wir ehrlich sind, zu uns und allen anderen, dann sind die Geschichten, die wir über uns erzählen, oft mehr Fiktion als Autobiografie.

Wie lernen wir über uns selbst? Vornehmlich in Krisen und im Ausnahmezustand, wenn unsere normalen Muster durchbrochen sind. Wenn uns das Leben in die Knie zwingt. Wenn etwas geschieht, das mehr erfordert, als eine instinktive Reaktion. Wenn es für einen Augenblick ganz still wird und wir keine Ablenkung finden, sondern Einsicht.

Oder durch Muster, die sich scheinbar in unserem Leben wiederholen, bis wir sie nicht mehr ignorieren können und uns aufraffen, etwas zu ändern. Nach dem dritten gescheiterten Job. Nach der vierten zerbrochenen Beziehung. Immer dasselbe Muster, bis wir aktiv sagen: Es reicht. Ich habe verstanden. Es muss sich etwas ändern.

Es kann gut sein, dass wir genau dann am meisten über uns lernen, wenn wir damit aufhören, etwas vorzugeben, oder weiter die Rolle spielen, von der wir glauben, sie spielen zu müssen.

Wenn wir stattdessen authentisch sein können. Wenn wir schließlich den Mut finden, zu sagen: Das bin ich nicht. Das will ich nicht länger und ich kann es auch nicht länger. Weil ich dies bin und nichts anderes. Weil ich verstanden habe, was ich wirklich will. Was mir wirklich wichtig ist und wer ich im Grunde bin. 

Was können wir von anderen lernen?

„Jeder Mensch, den du triffst, weiß etwas, was du nicht weißt“

Bill Nye

Bill Nye hat recht. Wir hören nur viel zu selten zu und verfallen in einen Stand-by, bis der andere aufhört zu reden, damit wir unsere Geschichte erzählen können.

Von anderen zu lernen heißt, zu verstehen, warum sie ihre Fehler gemacht haben oder weshalb sie erfolgreich waren. Welche Denkmuster, welche Hoffnungen, welche Ängste, welche Begierden haben sie angetrieben? Vielleicht kann uns das dabei helfen, zu erkennen, wie anfällig wir für ähnliche Fehler sind oder eine vergleichbare Chance auf Erfolg haben.

Wie bei Anführern ist es wohl auch bei Lehrern: Die, die es nicht sein wollen, sind oft die Besten.

Kinder können großartige Lehrer sein. Sie fragen so lange nach dem „Warum?“, bis wir, wenn wir ehrlich sind, bemerken, dass wir keine Ahnung haben. Sie bemerken Dinge, die wir längst nicht mehr wahrnehmen. Sie teilen Wahrheiten, von denen wir längst vergessen haben, wie wir sie aussprechen sollen. Und sie erinnern uns schmerzhaft daran, wie es war, als alles noch möglich war und unser Ratio unsere Träume noch nicht eingezäunt hat.

Von anderen lernen kann auch bedeuten, zuzugeben, dass sie etwas besser wissen. Dass ihre Perspektive valide ist. Dass unsere Art, etwas zu tun, nicht die einzige und die beste Art ist. Auch das kratzt am Ego. Und genau deshalb ist es relevant.

Was können andere von uns lernen?

Andere können auch von uns lernen. Ob als Positivbeispiel oder Negativbeispiel, liegt dabei an uns. Unsere Kinder lernen von uns – nicht das, was wir sagen, sondern das, was wir tun. Wie wir unsere Versprechen halten, wie wir mit Stress umgehen, wie gerecht oder ungerecht wir sind, wie wir lieben, wie wir streiten und wie wir vergeben – oder auch nicht.

Andere werden wohl primär aus unseren Fehlern lernen und wenn es gut (für uns) läuft, von unseren Erfolgen. Vieles bleibt anderen aber verborgen. Die gescheiterten Träume. Die Momente, in denen wir allen Widrigkeiten zum Trotz doch aufgestanden sind – oder liegen geblieben sind.

Das Problem: Wie ehrlich sind wir und wie transparent? Wir wollen perfekt sein, das Highlight-Reel zeigen, nicht die Outtakes. Wir erzählen von unseren Siegen und nicht wirklich von unseren Niederlagen. Und wenn, dann verklären wir sie zu heroischen Taten.

Aber niemand lernt aus Perfektion. Wenn wir ehrlich wären, würden wir zeigen: Es ist okay, nicht okay zu sein. Es ist okay, nicht alle Antworten zu kennen. Es ist okay, Fehler zu machen. Es ist okay, verletzlich zu sein. Es ist okay, authentisch zu sein. Vor allem das: authentisch sein.

Manchmal, wenn wir uns all das trauen, können wir ein Vorbild sein. Eines das zeigt: Es ist möglich, anders zu leben und zu denken. Eines das zeigt, dass manche Regeln verhandelbar sind und es mehr als einen Weg, mehr als ein Lebensmodell geben kann. 

Wir müssen wissen, und wir werden wissen!

Das sagte David Hilbert im Jahr 1930 voller Optimismus in einer Radioansprache. Die Tatsache, dass ein Mathematiker eine Radioansprache hält, ist an sich schon bemerkenswert und sagt viel über den Stellenwert Hilberts aus.

Hilberts Fokus lag darauf, ein vollständiges und einheitliches Fundament für die Mathematik zu schaffen und damit eine Beschreibung der Welt zu ermöglichen. Der Sinnspruch „Wir müssen wissen – Wir werden wissen“ ist am Ende seine Grabinschrift geworden und steht für die Ablehnung selbst gesetzter Denkbeschränkungen. Der Stadtfriedhof Göttingen ist ein interessanter Ort – nicht nur wegen des Nobelrondells.

Womit Hilbert nicht gerechnet hatte, war Kurt Gödel. Dieser bewies ein Jahr später seinen Unvollständigkeitssatz und zerschlug damit die Hoffnungen Hilberts auf einen vollständigen mathematischen Kanon.

Auch das sagt etwas über das Lernen aus: Dass wir lernen müssen, mit der Unvollständigkeit umzugehen. Wir wissen nicht alles und unser Wissen wird aller Voraussicht nach nie vollständig sein.

Unlernbares

Es gibt Dinge, die können wir nicht lernen, auf die können wir uns nur vorbereiten und sie dann erfahren:

  • Wie sich Verlust anfühlt – bis wir mit einem fundamentalen Verlust konfrontiert sind.
  • Wie die Liebe uns verändert – bis wir so verliebt sind, dass die ganze Welt plötzlich Kopf steht.
  • Wie die Angst uns lähmt – bis wir eine unserer Urängste am eigenen Leib erfahren.
  • Wie befreiend das Gefühl von Vergebung sein kann – bis uns vergeben wird oder wir gelernt haben, zu vergeben.
  • Wie ultimativ der Tod ist – weil er eine Barriere ist, die wir nicht überwinden können.

Über all diese Dinge können wir lesen, von ihnen hören, sie antizipieren. Aber wirklich daraus lernen können wir erst dann, wenn wir sie durchleben.

Das Verlernen

Lernen ist stellenweise herausfordernd. Noch schwieriger ist es, bereits Gelerntes wieder zu verlernen, um alte Muster zu durchbrechen, indem wir die Geschichten, die wir uns selbst erzählen, nicht mehr glauben oder zumindest infrage stellen. Indem wir Überzeugungen, die uns einmal dienlich waren, die aber nicht mehr zu uns passen, loslassen.

Innovation ist in gewisser Weise aktives Verlernen. Statt des „Das haben wir schon immer so gemacht“ werden neue Wege gesucht. Statt des „So bin ich eben“ neue Möglichkeiten für die eigene Entwicklung.

Verlernen braucht mehr Mut als Lernen. Beim Lernen fügen wir hinzu. Beim Verlernen müssen wir loslassen. Und wir hassen es, loszulassen. Auch wenn das, woran wir festhalten, uns schadet.

Wie verlernen wir die Angst, die uns einmal schützte, aber jetzt lähmt? Wie verlernen wir die Wut, die uns einmal Kraft gab, aber jetzt vergiftet? Wie verlernen wir die Geschichten über unsere Grenzen, die andere für uns geschrieben haben?

Das Lernen aus dieser Reise

Sieben Texte über das Leben. Was habe ich dabei gelernt?

Dass der Tod dem Leben Dringlichkeit gibt.

Dass Trauer der Preis der Liebe ist.

Dass Angst uns schützt und zugleich lähmt.

Dass Liebe das größte Risiko und der einzige Trost ist.

Dass Vergebung Grenzen hat und haben darf.

Dass der Sinn nicht gefunden, sondern geschaffen wird.

Oder haben wir etwas ganz anderes gelernt? Jeder seine eigene Lektion? Das wäre gut. Das wäre richtig. Denn wenn wir alle das Gleiche lernen, hat niemand wirklich etwas gelernt.

Was bleibt

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Wir sind nicht fertig und werden es nie sein. Das Leben ist keine Prüfung, die wir bestehen können. Es ist ein Seminar ohne Abschlussprüfung.

Jeden Tag gibt es neue Lektionen. Manche wiederholen sich, bis wir sie verstehen. Manche verstehen wir nie. Manche verstehen wir zu spät.

Das Schöne am Lernen: Es macht uns lebendig. Solange wir lernen, wachsen wir. Solange wir Fragen haben, sind wir unterwegs. Solange wir staunen können, sind wir jung – egal, wie alt unser Körper ist.

„Live as if you were to die tomorrow. Learn as if you were to live forever.“

Gandhi

Vielleicht ist das die letzte Lektion: Es gibt keine letzte Lektion. Das Lernen hört erst auf, wenn wir aufhören. Und selbst dann lernen andere aus unserem Leben, unseren Fehlern, unserer Geschichte.

Wir sind alle Lehrer und Schüler zugleich. Wir lernen und lehren durch unser Sein. Ob wir wollen oder nicht. Ob wir es wissen oder nicht.

Die Frage ist nur: Was wollen wir lehren? Und was sind wir bereit zu lernen?

Die Antwort schreiben wir jeden Tag neu. Mit unserem Leben.

Über den Autor

Sebastian

Hallo, ich bin Sebastian und schreibe hier in loser Folge über Themen, die mich beschäftigen.

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