nachgereift Gedanken, die erst noch zu Ende gedacht werden müssen

Acht: Anspruch, Realität und Erwartungen

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Anspruch und Realität – wenn uns unsere eigenen Erwartungen an uns selbst und andere einholen, genauso wie die Erwartungen, die andere an uns stellen, dann hat das oft mit meinem Lieblingsthema Authentizität zu tun.

Authentisch sein (und bleiben)

Authentisch sein, also dann, wenn das, was ich tatsächlich bin, und was andere von mir sehen, völlig übereinstimmt, gelingt nicht immer. Authentisch sein, zeigt sich, aber das ist nur meine Meinung, primär in den kleinen Dingen. Wenn ich meiner Tochter beim Ins-Bett-bringen sage „Ich hab’ Dich lieb“, dann meine ich es auch so, denn ich mag keine aufgesetzten leeren Gesten und meine Töchter haben einen siebten, achten und neunten Sinn dafür und würden mich sofort entlarven. Es war ein Lernprozess, aber ihre strafenden Blicke sind seltener geworden.

Meine Ansprüche an mich

Die Sensibilität meiner Töchter definiert den Anspruch, den ich an mich habe. Den, authentisch zu sein. Ich zu sein. Oder anders: mein wahres Ich zu zeigen. Keine Maske zu tragen. Kein Schauspiel aufzuführen. Es bedeutet, nicht vorzugeben, jemand zu sein, der ich nicht bin.

Es bedeutet, zu meinen Schwächen zu stehen, ohne sie als Ausrede zu benutzen. 

Es bedeutet, meine Stärken anzuerkennen, ohne arrogant zu werden. 

Und es bedeutet, ehrlich zu sein – vor allem zu mir selbst und auch zu anderen. Der Anspruch ist schnell und manchmal leichtfertig definiert. Was danach kommt, ist es nicht: Jeden Tag gibt es Situationen, in denen es viel einfacher wäre, einfach eine Rolle zu spielen. Der erfolgreiche Unternehmer. Der perfekte Vater. Die allwissende Hausaufgabenhilfe. Der Mann, der alles im Griff hat. Aber jede Rolle kostet Energie und die ist endlich.

Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Authentisch sind wir wahrscheinlich dann, wenn die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit möglichst gering ist. Wenn das, was ich bin, und das, was ich vorgebe zu sein, übereinstimmen. Je größer die Lücke, desto mehr Energie kostet es, sie zu füllen. Jeden Tag die Rolle zu spielen, die wir glauben, spielen zu müssen. Die Maske aufzusetzen. Das Image zu pflegen.

Irgendwann wird es unmöglich, die Kluft zu schließen.

Die Energie reicht nicht mehr.

Die Maske bricht.

Und dann? Zerbrechen wir mit der Maske oder beschließen wir, dass dies ein Moment der Befreiung ist? Der Moment, ab dem wir aufhören können zu performen und anfangen können, zu sein, wer wir wirklich sind?

Filter

Was lasse ich in mein Leben, weil ich den Ansprüchen – meinen eigenen oder denen anderer – gerecht werden will? Allen zu jeder Zeit gerecht zu werden, ist unmöglich. Deshalb öffnen wir manche Türen und schließen andere – bewusst oder unbewusst. Treffen Entscheidungen, die nicht immer im Gleichklang mit dem sind, was wir sind: Den Job, der aushöhlt, aber Status bringt? Die Beziehung, die längst tot ist, aber den Erwartungen entspricht? Die Verpflichtungen, die aus Pflichtgefühl übernommen werden, aber nicht aus Überzeugung? Und was schließe ich aus oder verbiete ich mir? Die Träume, die nicht „ins Bild“ von mir passen? Die Menschen, die zu „anders“ sind? Die Wege, die zu „unsicher“ scheinen?

Die Zweifel, die ich an mir selbst habe? Jedes „Ja“ zu einem dieser Ansprüche ist am Ende eine Entscheidung darüber, wie wir mit unserer Energie umgehen. Wenn zu viele Ansprüche gleichzeitig an uns zerren, wenn wir zu viele Hüte aufhaben, werden wir keinem mehr gerecht. Wir fragmentieren. Wir verzetteln uns. Versuchen, die Feuer zu löschen, bis wir ausbrennen. Eine wichtige Erkenntnis kann diese sein: zu erkennen, welche Ansprüche wirklich unsere sind und welche wir nur übernommen haben, weil wir glaubten, wir müssten sie adaptieren, um ein perfektes Leben zu haben.

Die Ansprüche der anderen

Es sind nicht nur meine eigenen Ansprüche, die ich an mich stelle. Auch andere definieren Ansprüche an mich. 

Um beim Beispiel meiner Töchter zu bleiben: Sie wissen, dass ich für sie verfügbar bin. Egal, ob sie ein Problem mit ihren Hausaufgaben haben, wenn sie nachts schlecht geträumt haben und Trost brauchen, oder es um eine Entscheidungshilfe bei der Auswahl des Lieblingsspielzeugs geht – sie vertrauen darauf, dass ich verfügbar bin, ihnen zuhöre, ihre Sorgen ernst nehme und ihnen dabei helfe, die Situation zu bewältigen oder das Problem zu lösen.

Kurz: Authentisch zu sein bedeutet an dieser Stelle für mich, dass ich ansprechbar für sie bin, ehrlich bin, aber nicht konfrontativ oder verletzend.

Und gar nicht so viel anders verhält es sich mit den Ansprüchen von Freunden und anderen nahestehenden Menschen. Auch hier soll ich verfügbar sein, ehrlich und nach Kräften unterstützen.

Der Unterschied könnte darin liegen: Bei meinen Kindern ist es meine selbstgewählte Aufgabe und Verantwortung, sie zu unterstützen. Das ist die Verantwortung, die ich immer bereit war zu übernehmen und die eine Grundvoraussetzung dafür ist, Kinder in diese Welt zu setzen, sie bei ihrem Wachstum zu unterstützen und wenn sie flügge geworden sind, in ihre Leben eintauchen zu lassen.

Aber bei anderen? Könnte ich da nicht, gewissermaßen im Gegenzug, eigene Erwartungen formulieren? Quid pro quo?

Implizierte Gegenseitigkeit als Falle

Versprechen sind Gefängnisse. Implizierte Gegenseitigkeit ist oft eine Falle. Aber müssen Ansprüche immer auf Gegenseitigkeit – zumindest einer implizierten – beruhen?

„Ich war doch auch für Dich da, also…“ – dieser Satz ist Gift in jeder und für jede Beziehung. Er macht aus Liebe einen Deal. Aus Unterstützung eine Schuld. Aus Freundschaft eine Buchführung.

Ein anderer Blickwinkel: Was, wenn wir bedingungslos geben könnten? Nicht jeden und allen, aber denen, die wichtig für uns sind? Ohne Bilanz, ohne die Erwartung einer Gegenleistung?

Macht Altruismus unser Leben dann nicht lebenswerter – gerade bei Menschen, die uns wichtig sind, die eine besondere Rolle in unserem Leben einnehmen?

Paradoxerweise erleichtert es unser Leben. Wo wir nichts fordern, entsteht Raum. Raum für Entwicklung. Raum für echte Verbindung statt kalkulierter Transaktion. Wo wir gezielt Raum geben, da kann Wachstum stattfinden. Nicht erzwungen, sondern organisch.

Natürlich funktioniert das nicht mit jedem und überall. Manche Menschen werden diese Bedingungslosigkeit ausnutzen. Aber bei denen, die uns wirklich wichtig sind? Da könnte es der Schlüssel zu tieferen Beziehungen sein.

Es ist ein Minenfeld

Wahrscheinlich ist es genau das: ein Minenfeld! 

„Ich hab’ Dich doch auch immer unterstützt!“

So schnell kann es gehen und schon ist der Anspruch definiert. Die Erwartung formuliert. Die Schuld etabliert. Und all das, ohne es explizit zu formulieren. Plötzlich wird ein Geschenk zu einem Vehikel, das eine Forderung transportiert. Aus freiwilliger Hilfe wird eine Verpflichtung. Aus Liebe eine Transaktion. Wieder: Quid pro quo.

Der Versuch, zu sortieren

Erwartungsmanagement. Was für ein Wort.

Erwartungsmanagement betreiben wir in Bezug auf die Erwartungen, die wir an uns selbst stellen – und sind oft nicht gut darin. Wir managen die Erwartungen, die andere an uns oder die wir an andere haben. Auch unsere Erwartungen an die Gesellschaft und „die da oben“ versuchen wir zu managen, zumindest zu formulieren, weil es schließlich nur gerecht ist, wenn auch uns jetzt endlich ein Platz an der Sonne zukommt. Oder ganz global an das Universum gerichtet, das, wenn es denn nur ein kleines bisschen gerechter und einsichtiger wäre, erkennen müsste, dass es an der Zeit ist, uns unsere Wünsche endlich zu erfüllen, weil wir es uns schließlich verdient haben.

Erwartungsmanagement – als könnte man Erwartungen tatsächlich managen. Bestenfalls können wir lernen, gut mit Erwartungen umzugehen.

Mit den Erwartungen an uns selbst: Indem wir hinterfragen, ob sie realistisch sind. Wie groß ist die Kluft zwischen dem Anspruch, den wir an uns selbst stellen, und der Wirklichkeit? Denn klar ist: Je größer diese Kluft wird, desto anstrengender, bis hin zur Unmöglichkeit, wird es für uns, diese zu überbrücken.

Mit den Erwartungen anderer an uns: Wann müssen wir uns ehrlich machen und kommunizieren, dass wir den an uns gestellten Ansprüchen nicht gerecht werden können? Ohne zu verletzen, aber mit aller nötigen Transparenz und Klarheit. Und wann müssen wir erkennen, dass manche Erwartungen anderer schlicht nicht unsere Verantwortung sind, und das auch kommunizieren?

Stichwort Kommunikation: Kommunizieren wir unsere Erwartungen an andere, oder hoffen wir nur, dass diese erkennen, was wir von ihnen erwarten? Und wie oft sind wir deshalb enttäuscht und erlauben es uns nicht mal, diese Enttäuschung offen zu zeigen? Wie oft erwarten wir von anderen, was wir selbst nicht zu geben bereit sind?

Mit den Erwartungen, die wir an die Gesellschaft haben: Hier führen allzu große Erwartungen meist zu Enttäuschungen. Wenn es etwas gibt, was konstant ist, dann, dass Wahlversprechen gebrochen werden. Dass Systeme träge sind. Dass Veränderung viel Zeit benötigt.

Und die Erwartungen an das Universum, an die große ausgleichende Gerechtigkeit: Die schlechte Nachricht ist, dass es genau andersherum ist. Wir bekommen keine Geschenke vom Universum. Wir können wünschen, und manche Wünsche verwandeln sich vielleicht in selbsterfüllende Prophezeiungen. Wenn wir dranbleiben und daran arbeiten. Meine Wahrheit ist: Dem Universum selbst sind wir voraussichtlich sehr egal.

Die Kunst des Loslassens

Am Ende geht es vielleicht gar nicht darum, alle Erwartungen zu erfüllen, sondern darum, zu erkennen, welche wir loslassen müssen.

Die Erwartung, perfekt zu sein.

Die Erwartung, es allen recht zu machen.

Die Erwartung, dass andere unsere unausgesprochenen Wünsche erraten.

Die Erwartung, dass das Universum uns etwas schuldet – die sollten wir definitiv loslassen.

Was bleibt? Vielleicht nur die eine Erwartung an uns selbst: authentisch zu sein. So gut es eben geht. So oft es geht. Mit all der Energie, die wir haben. Und die Erkenntnis: Das Universum schuldet uns nichts. Aber wir können trotzdem – oder gerade deswegen – gut zu uns und anderen sein. Ohne Gegenrechnung. Ohne kosmische Gerechtigkeit. Einfach weil wir es können und es uns ein Bedürfnis ist.

Vielleicht ist das ein wahres Privileg: geben zu können, ohne zu erwarten. Sein zu können, ohne sich zu verstellen. Leben zu können, ohne ständig abzugleichen, ob die Realität den Ansprüchen genügt. Die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit werden wir nie ganz schließen. Aber wir können entscheiden, wie viel Energie wir darauf verwenden, sie zu überbrücken – oder ob wir diese Energie nicht lieber dafür nutzen, authentisch das zu sein, was wir sind.

Weil das menschlich ist.

Am Ende: Authentizität kostet Energie, aber die Alternative kostet mehr. Gegenseitigkeit macht Beziehungen zu Geschäften. Das Universum schuldet uns nichts.

Über den Autor

Sebastian

Hallo, ich bin Sebastian und schreibe hier in loser Folge über Themen, die mich beschäftigen.

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von Sebastian
nachgereift Gedanken, die erst noch zu Ende gedacht werden müssen