nachgereift Gedanken, die erst noch zu Ende gedacht werden müssen

Eins: Vom Sterben

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Und zum Einstieg habe ich mir ausgerechnet existenzielle Themen herausgesucht. Vom Tod über Trauer, von Angst zu Liebe und Vergebung, vom Sinn zum Lernen. Sieben Stücke über das Leben. Und ja, es sind unbequeme Themen darunter. Aber auch diese gehören zum Leben und sind existenziell, gehören zu den „großen Fragen“, die mir durch den Kopf gehen und für die ich noch keine abschließenden Antworten für mich gefunden habe. 

Der Einstieg ist voller unangenehmer Themen, denen wir vielleicht lieber ausweichen würden: die Sequenz von Tod, Trauer und Angst. Danach unsere nur allzu menschlichen Versuche, die wir in unserem Leben unternehmen: Liebe, die über unsere Ängste siegen kann. Vergeben als eine Möglichkeit ohne Garantie. Schließlich die Themen, die uns hoffentlich unser Leben lang begleiten: Sinnsuche und Lernen – womit sich der Kreis schließt. 

Sicher ist: All diese Gedanken müssen noch zu Ende gedacht werden. Was hier steht, sind keine absoluten Wahrheiten, sondern Gedankenfragmente, die vor allem weitergedacht werden müssen. 

Vom Sterben

Das Leben endet mit dem Tod. Der Tod ist ein endgültiger Zustand, nachdem alle Lebensfunktionen und damit auch die Hirntätigkeit dauerhaft erloschen sind. 

Unsere Selbstbestimmung über unser Leben wird uns ultimativ entzogen, denn es gibt kein Leben, keinen eigenen Willen mehr, der sich noch äußern könnte: Alle biologischen Funktionen kommen zu einem Ende. Kein Herz, das weiterschlägt, kein Gehirn, das weiterdenkt. 

Der Tod konfrontiert uns erbarmungslos mit einer ultimativen Hilflosigkeit und mit unserer Endlichkeit. 

Es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten. Unsere Hilflosigkeit ist indes nicht individuell: Die Menschen, die unser Sterben erleben, die um uns sind, sind gleichermaßen hilflos. Denn wenn es soweit ist, dann kann uns niemand vor dem Tod bewahren. 

Niemand wird kommen, um uns vor dem Tod zu retten, denn der Tod beraubt uns aller Handlungsoptionen. Die einzige Handlungsoption, die uns bleibt, ist, ihn proaktiv vorwegzunehmen. Das Ergebnis ändert sich nicht: Der Tod gewinnt – allein, wir können uns einreden, dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben, weil wir ihm vermeintlich zuvorgekommen sind. Und zugleich wissen wir, dass dies nicht stimmt.  

Im Moment des Todes kollabiert alles. Unsere Identität wird zu einer Erinnerung an uns. Zu einem Narrativ, über das wir keine Kontrolle mehr haben. Tröstend ist daran bestenfalls der Leitsatz „Über die Toten nur Gutes“ – auch wenn es gar nichts Gutes zu sagen gibt. 

Das unentdeckte Land

Vielen fällt bei Hamlet das berühmte Zitat „To be or not to be“ ein. Der Monolog aus der ersten Szene des dritten Akts ist aber weit mehr als dieser eine Satz.  

Hamlet philosophiert über die Möglichkeit des Freitods: „Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte mit einer Nadel (Bodkin, also Dolch oder Stilett) bloß?“

Ebenso weshalb wir aus Furcht vor dem „unentdeckten Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, den Willen irrt, daß wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu unbekannten fliehn“, statt dem Freitod weiter die tägliche Mühsal des Lebens in all ihren Ausprägungen, sei es Spott, Misshandlungen, Druck, Zurückweisung, Ungerechtigkeit, Schmach und Geringschätzung, ertragen.

Wie groß muss die Verzweiflung sein, dass der „Mut der Verzweiflung“ stark genug wird, um die Furcht vor dem Tod zu überwinden? Das können wir uns fragen und versuchen zu rationalisieren, aber wohl nie ergründen, welche Überzeugungen und Dogmen, Zweifel und Wut in den Köpfen und Herzen derer kollidierten, die die Grenze in das unentdeckte Land freiwillig überschritten haben.

Ein guter Tod

Was macht einen guten Tod aus? Einen, den wir uns für unsere Liebsten wünschen würden? Ein schneller Tod? Ein sanfter Tod? Einschlafen und nicht wieder aufwachen, ohne Schmerzen und ohne Angst. Nach einem langen und erfüllten Leben. Einen, in dem alles Wichtige gesagt und getan wurde. 

Ein guter Tod für uns selbst wäre vielleicht einer, bei dem wir ohne Reue und Schuldgefühle loslassen können. Wo nicht Unerledigtes mehr quält, keine unausgesprochenen Worte mehr auf unserer Zunge brennen. Wo wir Frieden geschlossen haben – mit anderen, vor allem aber mit uns selbst und mit dem Leben, das wir gelebt haben.

Ein Tod, der auch gut für die ist, mit denen wir uns verbunden fühlen. Einer, der sie nicht zerreißt. Der Trauer hinterlässt, aber keine offenen Wunden. Der Abschiednehmen zulässt, ohne dabei zu traumatisieren. Ein Tod, der Raum für Versöhnung bot, bevor es dafür zu spät war.

Wann ist dieser Moment, in dem alles gesagt, in dem alles vergeben, in dem alles verstanden und damit alles geheilt ist? 

Unsere Sehnsucht nach einem guten Tod, nach diesem Ideal, führt uns vielleicht darauf zurück, wie wir leben sollten: nicht als wäre jeder Tag der letzte Tag für uns selbst, sondern als wäre jeder Tag ein idealer Moment für die Aussöhnung. Als wäre jedes Gespräch ein idealer Anlass für die wichtigen Worte, für die ungesagten Worte.

Liegt darin die eigentliche Lehre? Nicht auf den guten Tod zu hoffen, sondern gut zu leben, sodass jeder Tod – wann immer er kommt – zumindest etwas weniger schlecht sein kann?

Ein würdevoller Tod

Wie würdevoll sterben wir und wie geborgen können wir uns dabei fühlen? Es ist noch nicht lang her, vielleicht zwei Generationen oder drei, da starben die meisten Menschen dort, wo sie gelebt hatten, wo ihnen alles vertraut war und sie sich geborgen fühlten: zu Hause. Vielleicht umgeben von den Menschen, von ihrer Familie, die ebenso vertraut war wie die Umgebung. Der Tod war ein Teil des Lebens. Sichtbar und präsent. Eingebettet in ein soziales System. 

Heute wird außer Haus, wird in Krankenhäusern oder Pflegeheimen gestorben. Der Tod hat sich professionalisiert, hygienisiert, wurde ausgelagert und ist dabei zu einem Prozess geworden, der effizient ist und wenig Fragen offenlässt. 

Diese Evolution des Todes bedingt piepsende Geräte, Fremde in Krankenhauskleidung, die genaue Überwachung von Parametern. Wir haben den Tod aus unserem Alltag verbannt – und mussten mit der Effizienz auch die Würde des Sterbens neu definieren. 

Geben wir uns allzu leicht der Illusion hin, wir könnten den Tod kontrollieren, weil wir ihn hinauszögern können?

Es ist schwierig, genauso schwierig wie früher, den Moment für einen würdevollen Tod zu finden. Vor allem für die Menschen, die, unter Umständen stellvertretend, diese Entscheidung für uns treffen müssen. Wann finden wir diesen Moment und den Mut, dazu zu sagen: Es reicht. Es ist Zeit zu gehen. 

Und genauso wichtig: Wie können wir den Menschen, die diese Entscheidung für uns treffen müssen, den Frieden geben, dass ihre Entscheidung richtig und gewollt war? Weil unsere Wünsche gehört und respektiert werden, auch wenn sie „keine weiteren Maßnahmen“ lauten. Wo Schmerzen gelindert werden, ohne das Bewusstsein zu rauben. 

Dem Sterbenden kann Würde gezollt werden. Nicht durch Verlängerung des Lebens um jeden Preis, sondern durch liebevolle Begleitung. Nicht durch Verdrängung, sondern durch Akzeptanz. Das schafft Räume, in denen der Tod wieder Teil unseres Lebens sein kann. Vielleicht müssen wir den Tod wieder nach Hause holen – nicht physisch, aber mental? Ihn als das akzeptieren, was er ist: als natürlichen Abschluss eines jeden Lebens?

Und sollten wir nicht genau das vermeiden, was dieser Post tut? Sollten wir nicht statt über Sterbende zu reden, den Mut finden, mit ihnen zu reden und sie zu begleiten? 

Was kommt nach dem Tod?

Alles. Nichts. Wiedergeburt. Nirvana. Verdammnis. Himmel. 

Wir wissen es nicht. Uns bleibt, zu glauben und zu hoffen, religiösen Dogmen zu folgen, philosophische Schulen zu befragen, oder ganz eigene Überzeugungen zu entwickeln. 

An der Ambiguität auf die Fragen nach einem Leben nach dem Tod können wir verzweifeln – oder wachsen: Die Auseinandersetzung mit unserer eigenen Vergänglichkeit kann ein Weg sein, das eigene Leben zu vertiefen, zu reifen, und gleichzeitig ein Aufruf sein, dieses Leben maximal auszukosten. 

Der Tod ist final – die Zeit davor ist kostbar. 

Denn so sicher wie der Tod das Leben beendet, ist, dass es ein Leben vor dem Tod gibt. Der Tod ist ein Grund, dieses Leben zu feiern. Der Tod sollte uns ermahnen, zu leben. Jetzt. Nicht erst morgen. Die Zeit, die uns gegeben ist, zu nutzen. Das zu tun, was wichtig und was richtig ist. Nicht morgen, sondern heute. Damit wir zufrieden, ohne Reue und ohne Zweifel mit unserem Leben abschließen können, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist. 

Diese Erinnerung daran, unsere Zeit gut zu nutzen, muss gar nicht mit der regelmäßigen Erinnerung an unsere Vergänglichkeit verbunden sein. Die Auseinandersetzung mit dem Tod kann uns viel über Resilienz lehren, aber auch viel Freude am Leben nehmen. Und Lebensfreude, so paradox es klingt, ist so wichtig dafür, ein gutes Leben zu leben. 

Bei aller Ambiguität ist sicher: Zu sterben geschieht von allein. Ein gutes Leben zu leben, ist hingegen vielleicht der Kern, das größte Geschenk und die größte Lebensaufgabe. 

Hilfe

In diesem Artikel wurde das Thema Suizid in einen größeren Kontext eingeordnet. Um es klar zu kommunizieren: Suizid ist keine Lösung und dieser Artikel ist in keiner Weise als ein Anreiz oder eine Rechtfertigung dafür zu verstehen. Wenn Sie selbst depressiv sind, wenn Sie Suizidgedanken haben, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123.

Über den Autor

Sebastian

Hallo, ich bin Sebastian und schreibe hier in loser Folge über Themen, die mich beschäftigen.

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