Nach Tod, Trauer und Angst nun die Liebe. Endlich etwas Leichtes? Ja und nein. Ja, die Liebe macht alles leicht und hält uns in einem Schwebezustand, aber macht auch alles schwer zugleich – weil sie der Punkt ist, an dem alles kumuliert: die Leichtigkeit und das Glück, die Angst vor dem Verlust, die Unsicherheit, richtig verstanden zu werden, und die Sorge, dass alles einmal zu einem Ende kommen wird.
Und trotzdem, oder gerade deshalb, geben wir die Hoffnung nicht auf und wagen es immer wieder, uns auf die Liebe einzulassen. Einstein wird der folgende Satz zugeschrieben: „Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“ Dazu passt, was Nietzsche über die Liebe sagte „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn.“ Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass die Liebe eine einfache und gleichzeitig komplexe Sache und verliebt zu sein ein bemerkenswerter Ausnahmezustand ist?
Die Liebe
Ist sie nur ein evolutionärer Trick, der unsere Steinzeitvorfahren dazu brachte, ihre Neugeborenen nicht in der Savanne zurückzulassen? Ein neurochemischer Prozess, mit dem das Band zwischen Kind und Mutter, das sich in der Schwangerschaft entwickelt hat, weiter gestärkt wird? Was uns als Homo sapiens unterscheidet: Wir haben das Konzept der Liebe weiterentwickelt – und es dabei vielleicht völlig unnötig verkompliziert.
Liebe ist längst nicht mehr nur ein Überlebensmechanismus. Wir lieben ohne evolutionären Vorteil. Nicht nur der denkende Mensch, vor allem der fühlende Mensch wird auf einer ganz elementaren Ebene angesprochen. Wir lieben Menschen, mit denen wir keine Kinder zeugen werden. Wir lieben platonisch. Wir lieben theoretisch. Wir lieben unbelebtes und abstraktes – Musik, die uns nicht nährt, Ideen und Konzepte, die irrational sind. Wir empfinden Liebe für Menschen, die nicht mehr Teil unseres Lebens sind, die wir nie getroffen haben oder zu denen eine Liebesbeziehung nur in unserer Vorstellung existiert.
Sicher ist, dass sich die Liebe schon längst von ihrer rein biologischen Notwendigkeit emanzipiert hat. Die zu einem komplexen Konzept geworden ist, das so individuell ist, wie jeder einzelne Mensch. Ein Konzept, das uns von anderen Lebensformen abhebt, das uns zutiefst verletzlich macht und uns stellenweise der Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu treffen, beraubt.
Was die Liebe uns zeigt
Wie gehen wir mit etwas um, was so schwer in Worte zu fassen ist, was sich so beständig den vielen Erklärungsversuchen entzieht? Wir versuchen, bessere Erklärungen zu finden. Die Philosophie hat sich an ihr abgearbeitet – in genau dem Versuch, etwas zu erklären, das sich paradoxerweise allen Erklärungsversuchen zu entziehen scheint, das gleichzeitig aber jeder versteht.
Auf dem Weg dorthin, der noch lange nicht abgeschlossen ist, weil die Liebe sich wandelt und neue Räume für sich erschließt, sind unzählige Liebesgedichte entstanden, die jene Emotionen und Wahrheiten in Worte zu fassen suchten, damit sie bis zum Herz durchdringen.
Nach so langer Zeit stehen wir scheinbar immer noch am Anfang unserer Versuche, die Liebe zu erklären. Wir bauen auf den Konzepten und Gedanken großer Denkerinnen auf. Geblieben ist: Obwohl wir die Liebe intensiv spüren, ist es doch so schwer, die richtigen Worte dafür zu finden. Liebesbriefe, Kurznachrichten mit roten Herzen, verborgene oder offensichtliche Botschaften – die Frage und der Zweifel bleiben: Habe ich das, was ich gerade empfinde, gut genug ausgedrückt? War ich zu direkt oder ist da zu viel Ambiguität in meinen Nachrichten?
Wann sagen wir „Ich liebe Dich“ und wann nutzen wir all die anderen synonymen Begriffe, die zwar das Gleiche meinen, das zentrale Wort aber meiden? Was nach unseren Bemühungen bleibt, ist Hoffnung und Zweifel – bis wir eine Antwort erhalten. Denn vielleicht ist auch das wahr: Die Liebe macht alles leicht und lässt uns zugleich reichlich hilflos zurück. Versetzt uns in Zweifel und Panik, wenn wir befürchten, nicht die richtigen Worte gefunden zu haben, uns und was wir fühlen, nicht gut genug erklärt zu haben. So nimmt uns die Liebe mit einem sanften Lächeln alle Souveränität.
Die erste Liebe, die letzte Liebe
Das erste Mal verliebt. Plötzlich ist alles anders. Die Welt steht nicht nur Kopf, sie hat sich in einem Augenblick komplett neu erfunden. Jeder Gedanke und sehnsuchtsvoller Blick dauern eine Ewigkeit. Jede Berührung ist voller Energie. Das Konzept der Zeit hat sich grundlegend gewandelt. Sie vergeht viel schneller, wenn wir zusammen sind, und dehnt sich unendlich, wenn wir voneinander getrennt sind. Wir fühlen uns unsterblich und zugleich dem Tod geweiht.
Was die erste Liebe besonders macht: Es ist pure Intensität, die von keiner Vorerfahrung, keiner Verletzung und keiner Angst davor, zu versagen, getrübt ist. Voller Mut, ohne Netz und doppelten Boden und frei von den Narben vorheriger Verletzungen, tauchen wir vollständig in dieses neue Gefühl ein, das uns suggeriert: Alles ist möglich. Alles ist für immer. Und so hart, wie nach dem Ende der ersten großen Liebe, schlagen wir nie mehr in der Realität auf. Eine atemberaubende, eine brutale Erfahrung. Und die letzte Liebe? Das ist die, die wir womöglich gut gepanzert, mit schärferen Zähnen und einer von Narben gestählten Haut erleben – kalkulierend, wie weit wir gehen und was wir zulassen wollen, wie sehr wir uns exponieren. Vielleicht erkennen wir erst viel zu spät, dass uns die Liebe noch einmal begegnet ist.
Wie paradox. Wir wissen nicht, wann wir zum letzten Mal die Chance haben werden, zu lieben.
Die unmöglich komplizierte Liebe
Es ist kompliziert: Mal ist es der falsche Zeitpunkt. Mal der falsche Ort. Dann sind es die falschen Menschen, die sich begegnen. Oder es sind die richtigen, aber die Umstände passen einfach nicht. Es ist schmerzhaft: die unerwiderte Liebe und die Verletzungen, die sie in uns hinterlässt. Die verbotene Liebe, zu der wir nicht öffentlich stehen können. Die Liebe zu einem Menschen, der bereits gebunden ist. Die zu jemandem, der vielleicht nur in unserer eigenen Vorstellung existiert. Oder die geheime Liebe zu einer Person, die sich dessen gar nicht bewusst ist und deshalb die Liebe nie erwidern wird.
Vielleicht sind das die intensivsten Lieben. Weil sie nie gelebt werden können, bleiben sie in unserer Vorstellung perfekt, müssen sich nie dem Alltag stellen, bleiben ideal und für immer im Konjunktiv. Ist das am Ende sogar ein Grund, warum wir manchmal der Unmöglichkeit den Vorzug vor der Realität geben? Weil diese Unmöglichkeit sicherer ist als die Realität mit all ihren Kompromissen, Enttäuschungen, Verletzungen und Implikationen?
Die Liebe in den Alltag retten
„Retten“ ist hier wahrscheinlich sogar das richtige Wort. Nach den Schmetterlingen, nach dem Verliebtsein kommt der Alltag. Unweigerlich. Mit konsequenter Beständigkeit schleift der Alltag den Glanz des Verliebtseins ab. Legt frei, was an Substanz übrig ist.
Anders: Nach dem Rausch die Ernüchterung und der Kater. Wie viel Substanz bleibt? Ist das der Tod der Liebe oder ihr eigentlicher Geburtsmoment? Wenn die Hormone sich erst einmal beruhigt haben und die Liebe so stark ist, dass sie das Säurebad des Alltags überstanden hat, wenn man sein Gegenüber mit all seinen – liebenswerten – Macken, an guten wie an schlechten Tagen und auch mit seinem Morgenatem kennengelernt hat, kann es noch immer Liebe sein.
Oder Gewohnheit und Nebeneinanderherleben. Wenn es aber noch immer Liebe ist, dann ist sie weit weniger spektakulär, sondern ein Teil der Transformation vom „Ich“ zum „Wir“. Die Art von Liebe, die zwar keine guten Instagram-Posts macht, aber gemeinsame Erinnerungen schafft. Die Art von Liebe, die nicht jeden Tag das Wechselbad aller Gefühle mit sich bringt, sondern die, die ein warmes Gefühl ganz tief in der Seele hervorruft. Die, die da ist, wenn es drauf ankommt. Die im Streit verzeiht. Die, die Hand hält. Die, die dafür sorgt, dass nicht alles ausgesprochen werden muss. Zeichnet das die Liebe am Ende aus? Die Transformation vom „Ich“ zum „Wir“ und weiterzulieben, wenn die Verliebtheit sich abgenutzt hat? Wenn Vertrauen und Nähe implizit und nicht länger nur versprochen sind?
Die Liebe zu sich selbst
Das ist die härteste Arbeit: uns selbst zu lieben. Wie können wir uns lieben? Mit all unseren Fehlern, mit all unseren Niederlagen. Nicht die kuratierte, öffentliche Version von uns, sondern die ehrliche, vollständige mit all ihren dunklen Gedanken, Zweifeln, Schwächen? Die mit all den Peinlichkeiten und all der Schuld? Es geht nicht um Narzissmus, denn das wäre die Liebe zur Instagram-Version von uns.
Es geht um die harte Arbeit, die damit verbunden ist, uns selbst anzunehmen – mit dem, was unter der Oberfläche schlummert, lauert oder brütet. Es bedeutet, gnädig mit sich zu sein. Gnade ist ohne Liebe nicht möglich. Selbstliebe bedeutet nicht, jeder Schwäche nachzugeben, sondern gut zu sich zu sein, gut für sich zu sorgen – auch in Momenten, in denen wir uns so gar nicht danach fühlen. Und Selbstliebe ist doch auch eine Voraussetzung dafür, andere lieben zu können, oder? Wie können wir Liebe annehmen, wenn wir nicht davon überzeugt sind, und es durch Selbstliebe beweisen, dass wir es wert sind, Liebe zu empfangen?
Weil die Liebe so verflixt kompliziert ist, könnte es natürlich auch genau andersherum sein. Lernen wir uns selbst zu lieben, indem wir uns durch die Augen derer sehen, die uns lieben?
Die Liebe und der Mut dazu
Wenn wir lieben, dann zeigen wir früher oder später unsere verwundbarsten Stellen – auch die, die schon vernarbt sind. Damit geben wir einem anderen Menschen viel Macht über uns. Wir vertrauen darauf, dass die Liebe dieses Vertrauen und diese Öffnung belohnt. Dass wir nicht dort getroffen werden, wo es uns den größten Schmerz zufügt. Jede Liebe ist ein Wagnis – immer.
Wir wissen, dass die Liebe enden wird – durch eine bewusste Trennung oder den Tod – und verdrängen das von Anfang an konsequent. Wir wissen, dass wir verletzt werden, dass wir leiden werden. Und weil wir sind, wer wir sind, gehen wir trotzdem dieses Wagnis ein. Warum? Weil ein Leben ohne Liebe nicht lebenswert ist? Weil die kurzen Momente des Glücks jeden Schmerz und jede Verletzung mehr als aufwiegen? Weil die Liebe uns mutig macht und uns stärker macht, als unsere Ängste?
Sicher ist, dass wir wohl irrational und in einem guten Wortsinn verrückt sind, denn die Liebe kostet alles. Unseren Stolz. Unsere Souveränität. Unsere Kontrolle. Unsere Unabhängigkeit. Unsere individuellen Freiheiten. Manchmal sogar unseren Verstand. Und immer unser Herz.
Die Liebe ohne Deal
Was, wenn nach dem Säurebad des Alltags nur ein bequemes Miteinander bliebe, aber die Liebe sich längst aufgelöst hätte? Dann haben wir einen Deal. Dann haben wir uns arrangiert. Wir leben nebeneinanderher, aber nicht miteinander.
Radikal anders ist die bedingungslose Liebe. Eine, die keine Gegenleistung, keinen Deal als Belohnung erwartet. Eine, die nichts fordert, die nichts braucht. Eine Liebe, die bleibt, egal was geschieht. Kann es das geben, oder bleibt es eine schöne Illusion? Anders: Kann eine bedingungslose Liebe alle Grenzen überbrücken, jeden Schmerz ertragen und trotzdem ihre Gültigkeit behalten?
Vielleicht wäre es falsch, diese Art von Liebe ausschließlich im Reich der Emotionen zu verorten. Vielleicht bedingt bedingungslose Liebe eine rationale Entscheidung? Die Entscheidung, immer wieder zu vergeben. Immer wieder aufzufangen. Immer wieder zu hoffen. Immer wieder und auch dann, wenn es schmerzt.
Das Ende, die Liebe und das, was wir gelernt haben
Am Ende unseres Daseins halten wir Rückschau. Betrachten all unsere Lieben. Die erfüllten und die unerfüllten. Die, die wir gelebt haben, und die, die ungenutzt an uns vorübergezogen sind. Die, die beständig waren, und die, die nur eine flüchtige Berührung in unserem Leben waren. Alle haben uns geformt, verwundet, geheilt und auf jeden Fall verändert. Ich liebe, deshalb bin ich. Und lerne hoffentlich etwas dabei – über die Menschen, die ich liebe, und über mich selbst und im besten Fall über das „uns“ – über die Verbindung, die entsteht und wächst. Liebe ist transformativ. Vom „Ich“ zum „Wir“. Von einem individuellen Aufbruch und Mut finden wir zu einem gemeinsamen Weg.
Denn „Liebe besteht nicht darin, dass man einander ansieht, sondern dass man gemeinsam in die gleiche Richtung blickt“, sagt Antoine de Saint-Exupéry. Und in dem „Wir“ entsteht noch mehr. Darin finden wir Halt und Sicherheit. Und eine geborgene Ruhe. Julie de Lespinasse drückte dies so aus: „Das größte Glück der Liebe besteht darin, Ruhe in einem anderen Herzen zu finden.“ Zum „Wir“: Der Einzelne wächst über sich selbst hinaus, indem er im „Wir“ ankommt. Das Ziel ist nicht mehr nur, das eigene Glück zu finden, sondern das Glück des anderen zu suchen. Freiheit nicht mehr nur zu theoretisieren, sondern sie zuzulassen. Hoffnung und Zuversicht nicht als abstrakte Konzepte vor sich herzutragen, sondern sie täglich zu beweisen.
Und manchmal an Rilke zu denken und sich dabei zu fragen, was genau er meinte, als er schrieb: „Leise an Dir weht der Flügel meiner Zärtlichkeit vorbei.“ Die Liebe ist das Schwerste und das Leichteste zugleich. Sie ist unser größtes Risiko und unser einziger Trost. Sie macht uns zu Narren und zu Helden. Sie zerstört uns und erschafft uns neu. Und morgen? Morgen werden wir wieder lieben. Trotz allem. Wegen allem. Weil wir nicht anders können. Weil wir nicht anders wollen. Manchmal ist es auch einfach: Ein Leben ohne Liebe ist kein Leben, sondern nur Existenz.
PS
Über die Liebe gibt es noch viel mehr zu sagen. Über ihre dunklen Seiten: die Eifersucht und den Hass. Über Liebe in einem anderen Kontext – etwa die Liebe, die Eltern für ihre Kinder empfinden. Und wie ich schon schrieb: Die Liebe ist kompliziert und teilweise das, was wir daraus machen. Das gilt auch für alle Beziehungsformen und -formate, die hier nicht ausdrücklich aufgeführt wurden, die aber die gleiche Daseinsberechtigung haben.