Im zweiten Teil geht es um die Trauer. Nach dem Tod und vor der Angst. Ein wichtiger Teil in dieser kleinen Serie „Sieben Stücke über das Leben“. Und ja, auch die Trauer ist ein unbequemes Thema. Aber auch sie gehört zum Leben und ist existenziell, gehört zu den „großen Fragen“, die mir durch den Kopf gehen und für die ich noch keine abschließenden Antworten für mich gefunden habe.
Die Trauer
Trauer kommt ungefragt. Sie klopft nicht an, sie bricht ein. Die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen trifft uns wie ein Schlag. Eine überwältigende Konfrontation. Das Telefon noch in der Hand, die Worte, die wir nicht wahrhaben wollen, klingen noch nach. Der Schockmoment, in dem die Welt stillsteht und ab dem nichts mehr ist, wie es war.
Das ist eine Art, wie Trauer in unser Leben treten kann. In ihrer ursprünglichsten Form: akut, unmittelbar und als ein roher Schmerz, der uns überrollt, uns den Atem nimmt und der rationales Denken nicht mehr zulässt.
Manche schreien, andere werden stumm. Der Körper reagiert schneller, als der Verstand begreifen kann. Mechanismen und Automatismen greifen, die tief in unserem evolutionären Repertoire der Handlungsmöglichkeiten verankert sind. Alles geschieht rasch, überwältigend, gleichzeitig – als wären wir für einen Moment nicht mehr Teil dieser Realität.
Dieser Schockmoment ist der Erstkontakt mit der Trauer, die sich wandelt, neue Formen annimmt, die zu einem Begleiter wird und uns zu Zeiten konfrontiert, an denen wir es nicht erwarten. Aus dem ersten scharfen Schnitt wird ein dumpfer Schmerz. Aus der Leugnung wird langsames Begreifen. Aus dem „Das kann nicht sein“ wird ein „Es ist wirklich geschehen“.
Akute Trauer assoziieren wir oft mit dem Tod. Weiter gefasst mit einem Verlust. Deshalb trauern wir auch um manche Menschen, die noch leben, aber nicht mehr in unserem Leben sind. Um Beziehungen, die zerbrachen. Um Freundschaften, die sich verloren. Um die Heimat, die wir verlassen mussten. Die Melancholie, wenn der Sommer endet, der Herbst kommt und die Tage kürzer werden, ist eine Form der Trauer – leise, aber spürbar und ebenso latent.
Je länger wir leben, desto mehr Trauer sammelt sich in uns an. Wie Jahresringe bildet sich Schicht um Schicht aus Verlusterfahrungen um unsere Seelen. Der erste Abschied von einem Haustier. Die Großeltern, die ein wichtiger Ankerpunkt für uns waren und plötzlich nicht mehr für uns da sein können. Freunde, die zu früh gegangen sind. Der Verlust der Eltern. Jeder Verlust hinterlässt eine Lücke. Heimlich, still und leise verwandelt sich unser Herz in eine Landkarte voller Abschiede und Verluste, die alle mit einer Narbe markiert sind.
Ist das ein Preis des Lebens? Dass wir mit jedem weiteren Jahr mehr zu betrauern haben?
Der Schmerz, der bleibt
Das Leben muss weitergehen. Das Leben geht weiter. Irgendwie. Wir lernen mit dem Verlust, mit der Abwesenheit zu leben. Mit dem Stuhl, der leer bleibt. Mit der Nummer, unter der wir niemanden mehr erreichen können. Mit Geburtstagen, die zu Gedenktagen werden. Mit den kleinen Momenten, die uns vollkommen unvorbereitet treffen: dem Lied im Radio, dem Geruch oder einem Lachen, das dem verlorenen so ähnlich klingt.
Langsam wird aus einem akuten Schmerz ein dumpfes Ziehen. Aus Panik und Verzweiflung wird Wehmut. Aus dem „Wie soll ich nur ohne dich?“ wird ein „Ich lerne, ohne dich zu sein“.
Wir lernen mit diesem dumpfen Pochen, das im Hintergrund lauert, zu leben, wie man lernt, sich mit einer alten Verletzung zu arrangieren. Und Jahre später, als wir schon glaubten, alles sei verarbeitet, kann ein Moment, eine Begegnung, ein Bild oder eine Erinnerung uns wieder zurückwerfen. Die Trauer und der Verlust waren nie ganz weg. Auch nach Jahren nicht. Sie hatten sich nur zurückgezogen. Blieben diskret im Hintergrund als ein Teil von uns.
Wenn eine Gesellschaft trauert
Es gibt auch die kollektive Trauer. Wenn eine Gesellschaft gemeinsam einen Verlust betrauert. Eine Naturkatastrophe. Ein Terroranschlag. Der Tod einer öffentlichen Person, die uns etwas bedeutet hat. Plötzlich trauern Fremde gemeinsam, teilen denselben Schmerz, suchen gemeinsam nach Sinn in dem, was geschehen ist.
Diese kollektive Trauer kann verbinden. Sie erinnert uns daran, dass wir nicht allein sind in unserem Schmerz. Aber sie kann auch befremdlich sein – wenn die öffentliche Trauer zur Pflicht wird, wenn erwartet wird, dass wir alle gleich fühlen, gleich reagieren.
Wie authentisch ist kollektive Trauer? Trauern wir wirklich, oder spielen wir Trauer? Und was, wenn wir nichts fühlen, während alle um uns herum zu trauern scheinen?
Die Einsamkeit des Trostes
Wie begleiten wir die Trauer anderer? Was sagen wir jemandem, der gerade das Liebste verloren hat?
„Er hatte ein gutes Leben“ – als würde das den Schmerz relativieren.
„Die Zeit heilt alle Wunden“ – als wäre Trauer eine Krankheit, und wenn wir lange genug warten, dann geschieht die Heilung von allein.
„Sie ist jetzt an einem besseren Ort“ – als könnten wir sicher sein, dass es so ist.
„Ich weiß, wie du dich fühlst“ – als wäre jede Trauer gleich und als ob wir wüssten, wie unser Gegenüber wirklich die Trauer empfindet.
Unsere Versuche zu trösten offenbaren vor allem eines: unsere eigene Hilflosigkeit. Wir versuchen, die Stille mit Worten zu füllen, weil wir selbst das Schweigen nicht mehr ertragen können. Dabei wäre manchmal genau das richtig: Schweigen. Da sein. Aushalten, dass es nicht zu sagen gibt, das den Schmerz lindern kann. Wie können wir präsent sein, ein Anker sein, einen Raum für die Trauer anderer schaffen, ohne uns selbst darin zu verlieren? Wie können wir eine gute Balance finden aus Mitgefühl und Selbstschutz, aus Nähe und Distanz, aus Hilfe und Selbstständigkeit, aus Initiative und Abhängigkeit? Das sind die schwierigsten Fragen, bei denen wir uns immer wieder hinterfragen müssen: „Was kann ich wirklich leisten?“ oder „Wie viel Energie kann ich geben?“
Und manchmal sind es die ganz grundlegenden Dinge, die am besten sind: einfach da zu sein. Keine Ratschläge, keine Weisheiten. Nur Präsenz.
Die Trauer um das Ungelebte
Nicht alle Trauer gilt dem, was war. Manchmal trauern wir um das, was hätte sein können. Weil wir Entscheidungen getroffen haben, die wir im Nachhinein bereuen.
Hätte ich damals doch…
Wäre ich nur mutiger gewesen…
Was, wenn ich den anderen Weg gewählt hätte?
Hätte ich doch noch gesagt, dass…
Die Trauer um entgangene Chancen, um das, was vermeintlich hätte sein können, kann genauso schmerzhaft sein, wie die um tatsächlich eingetretene Verluste. Wir trauern um Versionen von uns selbst, die nie existiert haben. Um Paralleluniversen unseres Lebens, die sich mit jeder Entscheidung, die wir getroffen haben, für immer geschlossen haben: der Liebe, der wir nicht nachgingen. Um die Kinder, die wir nie bekamen. Um die Karriere, die wir nie verfolgten. Und weil unsere Vorstellungskraft wenige Grenzen hat, überhöhen wir diese ungelebten Versionen unserer Leben, was die Differenz zu unserem tatsächlichen Leben noch weiter vergrößert und damit unser Bedauern darüber.
Wie können wir wissen, ob der andere Weg besser gewesen wäre? Die Ambiguität ist ein Teil der Gleichung: Wir wissen es nicht. Wir können nicht sagen, ob eine andere Entscheidung zu einem besseren Ergebnis geführt hätte. Deshalb idealisieren wir das Ungelebte, das sich nie gegen die Realität behaupten musste, das so perfekt erscheint, weil es nie die Chance hatte, zu scheitern.
Aber ist es nicht viel wichtiger, zu leben, statt einer Zukunft nachzutrauern, die nie eine Realität war? Auch das ist leicht gesagt.
Wenn wir es kommen sehen
Eine Diagnose steht im Raum. Ein langsamer Abschied steht bevor. Antizipierte Trauer – das Trauern im Voraus – hat eine ganz eigene Qualität. Wir trauern um jemanden oder etwas, das noch da ist. Jeder gemeinsame Moment wird kostbar. Jeder gemeinsame Moment wird intensiv erlebt. Jeder gemeinsame Moment wird schmerzhaft. Die Gleichung scheint aufzugehen: Je mehr von der Zeit, die noch bleibt, vergeht, desto kostbarer werden die Momente und gleichzeitig auch schmerzhafter. Wir sammeln gemeinsame Erinnerungen, weil wir wissen, dass bald keine neuen Erinnerungen mehr hinzukommen werden. Ein Schatten legt sich auf jedes Lachen, auf jede Leichtigkeit, und die Normalität, die ist schon lange eine Schauspielerei.
Ist diese vorweggenommene Trauer ein Geschenk, weil sie uns Zeit zum Abschiednehmen gibt? Oder ist sie eine Bürde, weil sie den Schmerz verlängert? Wir nehmen Anlauf und wissen, dass das Ziel, dass das Ergebnis unvermeidbar ist. Wie eine Startbahn, die irgendwann zu Ende ist. Und dieses Ende markiert den unausweichlichen Verlust.
Und was macht es mit uns, wenn wir gleichzeitig hoffen und dabei aber wissen, dass die Hoffnung vergeblich ist? Was macht es mit uns, wenn jede kleine Verbesserung zu einer grausamen Selbsttäuschung wird?
Die vielen Gesichter der Trauer
Wir haben versucht, die Trauer zu verstehen. Versucht, sie zu kanalisieren. Wenn wir nur einen Plan haben, der gut genug ist, dann, ja dann was?
Die vielzitierten Phasen – Verleugnung, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz – sind bestenfalls grobe Orientierungspunkte. In Wahrheit ist Trauer so individuell wie ein Fingerabdruck.
Manche weinen. Andere werden still. Einige stürzen sich in Arbeit, andere können sich zu nichts aufraffen. Es gibt die, deren Trauer in Wellen kommt – heute erträglich, morgen überwältigend. Und jene, bei denen sie sich wie ein grauer Schleier über alles legt. Und manche kompartmentalisieren ihre Trauer so sehr, dass sie gar kein Teil der Realität mehr ist.
Es gibt große kulturelle Unterschiede, was die Trauerarbeit angeht. In Mexiko feiert man den Día de los Muertos – zwei Tage im Jahr, an denen die Grenze zwischen Leben und Tod durchlässig wird. Familien bauen Altäre für ihre Verstorbenen, kochen deren Lieblingsessen, erzählen Geschichten und lachen und weinen gemeinsam. Der Tod wird nicht verdrängt sondern gefeiert als Teil des Lebens. In vielen asiatischen Kulturen verbrennt man Geistergeld und Papier-Nachbildungen von Häusern, Autos, sogar iPhones für die Verstorbenen. Eine Weise, die Verbindung aufrechtzuerhalten, für die Toten zu sorgen, auch wenn sie nicht mehr da sind. In Ghana werden Särge zu Kunstwerken – Autos, Flugzeuge oder Kakaobohnen, je nachdem, was dem Verstorbenen wichtig war. In der westlichen Welt haben wir unsere eigenen Rituale. Wir pflegen Gräber, zünden Kerzen an, gedenken am Totensonntag. Aber oft trauern wir leise, privat, als wäre Trauer etwas so Persönliches, dass man sie verstecken muss.
Wenn die Trauer nicht weicht
Manchmal wird die Trauer zu groß, zu schwer, um sie allein zu tragen. Wenn sie uns lähmt, wenn wir nicht mehr funktionieren können, wenn die Welt ihre Farbe verliert und wir sie nicht zurückgewinnen können. Das ist keine Schwäche. Es ist ein Zeichen, dass wir Hilfe brauchen.
Trauerarbeit – was für ein seltsames Wort. Als wäre Trauer etwas, das man abarbeiten könnte wie eine Aufgabenliste. Und doch beschreibt der Begriff etwas Wahres: Trauer ist Arbeit. Harte Arbeit. Die Arbeit, jeden Tag aufzustehen, obwohl jemand fehlt. Die Arbeit, neue Routinen zu finden. Die Arbeit, zu akzeptieren, was nicht zu ändern ist.
Professionelle Hilfe kann ein Rettungsanker sein. Jemand, der zuhört, ohne zu urteilen. Der Raum gibt für alle Gefühle – auch für die, die wir uns selbst nicht erlauben. Der uns hilft zu verstehen, dass Trauer keine Krankheit ist, die geheilt werden muss, sondern ein Prozess, den wir durchleben.
Was bleibt
Trauer verändert uns. Mit jedem Verlust werden wir ein anderer Mensch. Die Frage ist nicht, ob wir über Trauer hinwegkommen. Die Frage ist, wie wir mit ihr leben lernen.
Denn Trauer ist ein Preis der Liebe. Wir trauern nur um das, was uns etwas bedeutet hat. In diesem Sinne ist Trauer auch ein Zeugnis – der Beweis dafür, dass wir geliebt haben, dass etwas wichtig war, dass unser Leben Verbindungen hatte, die tief genug waren, um zu schmerzen, wenn sie reißen.
Vielleicht lernen wir irgendwann, die Trauer nicht als Feindin, sondern als Begleiterin zu sehen, als die Kehrseite der Liebe, die uns daran erinnert, was wirklich zählt.
Ist das nicht der eigentliche Triumph über die Trauer – dass wir weitermachen, weiterlieben, trotzdem mutig genug sind, neue Verbindungen eingehen, obwohl wir wissen, dass jede davon eines Tages schmerzen wird?
Hilfe
In diesem Artikel wurde das Thema Trauer in einen größeren Kontext eingeordnet. Wenn die Trauer zu groß wird, Sie selbst depressiv sind oder wenn Sie Suizidgedanken haben, dann kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge im Internet oder über die kostenlosen Hotlines 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 oder 116 123.