nachgereift Gedanken, die erst noch zu Ende gedacht werden müssen

Fünf: Von der Vergebung

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Nach dem Tod, der Trauer, der Angst und der Liebe geht es nun um Vergebung. Einem anderen Menschen zu vergeben, ist schwer. Es verlangt von uns, dass wir gegen unsere Instinkte handeln, weil wir loslassen müssen, was uns verletzt hat, statt uns zu rächen oder davonzulaufen. Zu vergeben ist anders als die Liebe, die plötzlich und unangekündigt in unser Leben tritt.

Zu vergeben ist eine bewusste Entscheidung. Und entscheiden wir uns dagegen, dann laden wir am Ende unsere Seelen mit Verbitterung auf. Aber Vergebung kann auch ein Akt der Gnade sein, der uns selbst widerfährt. Uns wird vergeben. Diese Dualität hat sie mit der Liebe gemein. So wie wir lieben und hoffentlich auch geliebt werden, vergeben wir und wird uns vergeben.

Vergeben

Das Paradox der Vergebung: Wie sollen wir etwas ungeschehen machen, das wir nicht vergessen können? Vergeben und vergessen – so einfach ist das doch nicht, oder? Denn die Verletzung haben wir erfahren. Den Schmerz haben wir gespürt. Die Narbe, die uns erinnern wird, die bleibt. Und trotzdem verlangen wir von uns zu sagen „Es ist gut. Ich vergebe Dir.“ Und dann? Wird durch Vergebung wirklich „alles gut“? Oder ist Vergeben vielmehr die Entscheidung, dass das Geschehene uns nicht länger beherrschen soll?

Dass wir die Macht, die die Verletzung über uns hat, brechen wollen? Vergeben heißt nicht vergessen. Es heißt nicht, dass das, was geschehen ist, in Ordnung war. Es heißt nicht einmal, dass wir die Person, die uns verletzt hat, wieder in unser Leben lassen müssen. Vergeben ist wahrscheinlich zunächst einmal etwas, das in uns selbst stattfinden muss: eine Befreiung von der Last des Grolls, der uns von innen auffrisst.

Warum ist es so verdammt schwer, zu vergeben?

Warum ist es nur so verdammt schwer, einem anderen Menschen zu vergeben? Liegt es – einmal mehr – an unserem scheinbar allgegenwärtigen Steinzeithirn? Tief in unserer DNA versteckt sind längst überholte Mechanismen fest einprogrammiert: Damit wir uns Gefahren merken und Feinde identifizieren können. Damit wir die Konsequenzen, den Schmerz, vermeiden können. Wer uns einmal verletzt hat, der ist eine Bedrohung. Das zu vergessen, wäre evolutionär dumm.

Immerhin haben wir wohl in den vergangenen 2000 Jahren dazugelernt. Wir haben gelernt, was es bedeutet, zu vergeben. Wir haben als soziale Wesen erkannt, dass ewiger Groll die Gruppe zerstört. Haben gelernt, dass Rache eine Spirale ist, die nie endet. Auge um Auge und am Ende sind alle blind.

Ohne Vergebung würden wir in einer Welt leben, die nicht lebenswert ist und in der jeder gegen jeden kämpft – aus Gründen, die wir schon längst vergessen haben. Und dieser Groll, diese Verbitterung, die vergiften uns vor allem selbst. Garniert mit Prophezeiungen, die sich selten erfüllen, etwa „Wenn ich die Augen zumache, dann macht ihr die Augen auf!“ – und nein, anders als prophezeit wurde es tatsächlich besser, als der herrische und cholerische Vater verschied und nicht mehr Teil der Familie war. So gesehen wurden den Beteiligten zwar die Augen geöffnet, aber in einer ganz anderen Weise. Eine Wahrheit bleibt über den Akt des Vergebens: Nicht zu vergeben schadet uns selbst mehr als denen, denen wir nicht vergeben.

Sich selbst vergeben

Es ist vielleicht ein wenig so, wie bei der Liebe: Wir müssen uns selbst lieben, damit wir andere lieben und die Liebe anderer in unserem Leben zulassen können.

Wollen wir uns selbst vergeben, dann kostet das Überwindung: Wir sind oft selbst unser schärfster Kritiker, unerbittlichster Ankläger und strengster Richter zugleich, denn wir kennen sie alle – jede noch so kleine Verfehlung, die wir begangen haben, jeden noch so kleinen Moment der Schwäche und wir wissen ganz genau, wann wir versagt haben.

Wie vergeben wir uns, dass wir manche Chancen verpasst oder nicht wahrgenommen haben? Wie vergeben wir uns die Worte, die wir gesagt haben – oder die wir für uns behalten haben? Wie vergeben wir uns für all die Versionen von uns, die unseren Ansprüchen nicht gerecht wurden oder die wir verraten haben, weil wir einen vermeintlich leichteren Weg wählten? Wie vergeben wir uns dafür, andere verletzt zu haben?

Sowenig wie Selbstliebe mit Narzissmus gemein hat, hat Selbstvergebung mit Selbstgerechtigkeit zu tun. Es geht nicht darum, sich in die Tasche zu lügen, Fehler kleinzureden oder die Verantwortung abzuwälzen. Es geht darum, anzuerkennen, was ist: Ja, ich habe versagt. Ja, ich habe verletzt. Ja, ich war ungerecht. Ja, ich habe andere ausgenutzt. Nein, ich war nicht der Mensch, der ich hätte sein sollen.

Und all das anerkennend: Gerade deshalb verdiene ich eine zweite Chance. Von mir. Um es besser zu machen. Um zu einer besseren Version von mir zu werden. Um diese bessere Version von mir überhaupt sein zu können.

Diese bessere Version von uns entsteht in der Zukunft. Ohne Selbstvergebung bleiben wir in unserer Vergangenheit gefangen. Bleiben immer die Version 0.9 unseres Lebens – die ewige Beta-Version – und definieren uns über unsere schlimmsten Momente, statt über das Potenzial, das in uns liegt.

Wie können wir andere lieben, wenn wir uns selbst hassen? Anders: Wie können wir anderen vergeben, wenn wir es noch nicht einmal fertigbringen, uns selbst zu vergeben?

Anderen vergeben

Anderen zu vergeben, ist ein Akt der Großherzigkeit – oder der Verzweiflung. Manchmal vergeben wir, weil wir großmütig sein wollen. Manchmal, weil wir nicht anders können, weil der Schmerz des Nicht-Vergebens größer ist als der Schmerz der ursprünglichen Verletzung. Was ist die Voraussetzung dafür, dass wir vergeben können? Muss der andere Reue zeigen? Um Vergebung bitten? Sich ändern? Oder können wir auch vergeben, wenn nichts davon geschieht? 

Ein stiller Akt der Vergebung, der nicht kommuniziert werden muss?

Vielleicht ist wahre Vergebung die, die keine Bedingungen stellt. Die nicht wartet, bis der andere „es verdient hat“. Die vergibt, weil wir uns entschieden haben zu vergeben, nicht weil der andere sich entschieden hat und alles unternahm, um unserer Vergebung würdig zu sein. Das klingt nach Höherem. Nach mehr, als die meisten von uns leisten können. Und das stimmt. Die meisten von uns vergeben in Raten. Heute ein wenig. Morgen fällt uns die Verletzung wieder ein und der Groll kommt zurück. Übermorgen vergeben wir wieder ein Stück. Vergebung ist oft kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess. Ein tägliches Ringen. Ein Ringen mit uns, mit der Klarheit, die wir benötigen, um endgültig vergeben zu können – oder auch nicht.

Die Grenzen der Vergebung

Muss alles vergeben werden? Gibt es unverzeihliche Taten? Gibt es Momente, in denen Vergebung keine Tugend, sondern Schwäche wäre?

Es gibt Verletzungen, die so tief gehen, dass Vergebung nicht nur unmöglich scheint, sondern tatsächlich ist. Bis in alle Ewigkeit oder zumindest so lange, wie unsere weltliche Existenz andauert.

Ein Verrat, der alles zerstört hat. Die Gewalt, die Körper und Seele gebrochen haben. Eine Grausamkeit, für die es keine Erklärung gibt, außer der Freude am Schmerz des anderen.

Vielleicht müssen wir nicht alles vergeben. Vielleicht ist es manchmal richtig, nicht über uns hinauszuwachsen, sondern unsere eigenen Grenzen zu ziehen. Statt uns mit dem Unmöglichen zu überfordern, lieber zu sagen: Das war unverzeihlich und wird es auch immer sein.

Vielleicht ist die Weigerung zu vergeben manchmal ein Akt der Selbstachtung und ein Schutz davor, uns selbst die Last aufzuerlegen, damit leben zu müssen, dass wir alles nicht vergeben können.

Möglicherweise ist auch das wahr: Manchmal können wir vergeben und vergessen. Manchmal vergeben wir und vergessen dennoch nicht. Und manchmal überfordert uns das Vergeben, und das ist auch in Ordnung – denn wir sind schließlich auch nur Menschen und niemand kann übermenschliches von uns verlangen. Keine Religion, keine Therapie, keine Familie und keine Freunde.

Vergebung und Religion

In vielen Religionen ist Vergebung ein zentrales Thema. Das Christentum predigt: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Der Islam lehrt, dass Allah nur denen vergibt, die auch anderen vergeben. Im Judentum bittet man an Jom Kippur um Vergebung – von Gott und von den Menschen, die man verletzt hat.

Diese religiöse Dimension gibt der Vergebung etwas Transzendentes. Es geht nicht nur um uns und den, der uns verletzt hat. Es geht um etwas Größeres. Um kosmische Gerechtigkeit. Um die Seele. Um das Karma. Brauchen wir diese Bestätigung von außen? Diese höhere Instanz, die uns sagt: „Dir ist vergeben“?

Für viele mag das der einzige Weg sein, wirklich loslassen zu können. Das Gefühl, dass nicht nur der Mensch, sondern auch Gott, das Universum, das Schicksal uns verziehen hat.

Der Moment der Erleichterung, nachdem wir das Sakrament der Beichte empfangen haben, das auch das der Versöhnung oder Buße genannt wird. Dieser Moment, in dem uns alle Schuld vergeben wird. Eine Validierung durch eine höhere, eine institutionelle Instanz.

Aber was, wenn wir nicht in einem religiösen Sinn glauben? Können wir trotzdem vergeben und uns vergeben lassen? Oder bleibt uns ohne diese transzendente Dimension immer ein Rest von Schuld bis in die Ewigkeit erhalten?

Vergebung als Befreiung

Am Ende ist Vergebung vielleicht vor allem eines: Befreiung. Befreiung von der Last der Vergangenheit. Von der Kette, die uns an den Moment der Verletzung bindet. Von der Rolle des Opfers oder des Täters.

Wenn wir vergeben, sagen wir: Diese Geschichte ist hier zu Ende. Was geschehen ist, was ich getan habe oder was mir angetan wurde, das definiert mich nicht mehr. Denn ich bin mehr als dieser Schmerz, ich bin mehr als diese Schuld, mehr als dieser Schicksalsmoment.

Das hat nichts mit Verdrängen zu tun. Eher mit Versöhnung. Deswegen ist nicht auf magische Weise alles wieder so wie zuvor. Manches ist unwiderruflich zerbrochen. In uns, oder in der Welt. Manche Beziehungen können nicht mehr heilen – genauso wie manche Wunden nie ganz heilen und ihre Narben hinterlassen werden. Trotz dieser Verwundungen können wir weitergehen.

Wenn wir vergeben, fällt uns das leichter, wir sind freier und haben nicht zugelassen, dass sich der Groll in uns manifestiert, sich mehr und mehr Raum nimmt und ein Bestandteil von uns wird.

Am Ende ist es vielleicht so: Vergebung macht nicht alles wieder gut. Aber sie schafft den Raum, dass wieder etwas gut werden kann.

Jenseits der großen Gesten

Vielleicht sollte Vergebung keine große Geste sein, mit der wir nach Applaus heischen oder die wir großzügig verteilen. Vielleicht ist Vergebung besser als eine spirituelle und alltägliche, eine stille Praxis einzuordnen.

Reicht es nicht, wenn wir für uns zu dem Schluss kommen, dass wir einem anderen Menschen vergeben? Müssen wir diese Vergebung auch kommunizieren? Und wie reagieren wir darauf, wenn wir plötzlich einen Anruf erhalten und jemand, der schon lange nicht mehr Bestandteil unseres Lebens ist, uns um Verzeihung bittet?

Anders: Ist es an uns, die Absolution zu erteilen? Kann das, darf das von uns erwartet werden und wie gehen wir mit solchen Bitten um?

Und wenn es eine stille Praxis für uns ist, wie wäre es dann, wenn wir jeden Abend bewusst vergeben würden? Allen voran uns selbst für die Fehler des Tages. Den anderen für die Momente, in denen sie uns enttäuscht haben, oft, ohne es zu bemerken. Dem Leben dafür, dass es nicht perfekt ist. Nicht aus Schwäche, sondern weil wir verstanden haben, dass Groll uns mehr kostet, als er uns bringt? Weil wir gelernt haben, dass Vergebung kein Geschenk an andere ist, sondern vor allem an uns selbst?

Wird es je ein Ende haben?

Wird es je ein Ende haben? Wird es so sein, wie bei der Trauer, die wir vielleicht nie ganz überwinden, die zu uns zurückfindet und uns, wohlüberlegt, in einem schwachen Moment erneut befällt?

Es kann gut sein. Wir üben uns in Selbstvergebung und trotzdem plagen uns Selbstzweifel. Haben wir auch Zweifel, weil wir anderen vergeben haben? Können wir je ganz sicher sein? Nein.

Diese leise Stimme in unserem Hinterkopf, sie wird uns immer und immer wieder erinnern und einen Zweifel säen. Und dann ist es an uns, mit diesem Zweifel umzugehen.

Vergeben, aber nicht vergessen

Zu vergeben verändert uns. Vergebung macht uns nicht per se zu besseren Menschen, das wäre zu simpel, aber vielleicht zu einer etwas besseren Version von uns.

Hoffentlich macht sie uns zu freieren Menschen. Zu Menschen, die nicht durch die Verletzungen ihrer Vergangenheit definiert werden, sondern zu Menschen, die selbst entscheiden können, wer sie sein wollen, statt wer sie wegen ihrer Verletzungen sein können.

Ist Vergebung die Antwort auf alles? Sicher nicht. Oder ganz bestimmt. Es ist schwierig. Wahrscheinlich kommt es darauf an, wen und wann man fragt.

Vielleicht trifft es das besser: Vergeben, aber nicht vergessen. Das klingt widersinnig, denn es widerspricht dem so oft zitierten „Vergeben und Vergessen“. Aber manche Wunden sind zu tief. Manche Taten waren zu grausam. Manche Menschen sind zu gefährlich.

Kurz: Manches kann nicht vergeben werden. Und auch das ist in Ordnung und sicher kein Fehler in uns.

Vergeben und unsere Limitierungen anerkennen

Ist es die richtige Frage, ob wir vergeben können? Ist die bessere Frage nicht vielmehr, wie wir mit dem, was wir nicht vergeben können, leben können?

Wie wir verhindern können, dass uns das Unverzeihliche langsam von innen her aushöhlt und Kammern voller Bitterkeit hinterlässt?

Vom Ende her gedacht: Ist Vergebung nicht nur eine Tugend, sondern eine elaborierte Überlebensstrategie, die uns einen Weg zeigt, wie wir in einer unvollkommenen Welt, die angefüllt ist mit unvollkommenen Menschen – das schließt mich auf jeden Fall ein – leben können, ohne zu zerbrechen?

Morgen werden wir erneut verletzt, und weil wir so unvollkommen sind, wie wir nun mal sind, werden wir auch – bewusst oder unbewusst – andere verletzen. Die Frage ist vielleicht gar nicht, ob wir anderen vergeben oder ob uns vergeben wird.

Die Frage ist, ob wir jeden Tag den Mut finden, wieder und wieder zu versuchen, zu vergeben.

J’pardonne à tort et à raison
L’amertume n’est pas ma maison
La rage mais pas la rancœur
La colère mais pas l’aigreur
J’pardonne et je veux espérer
Qu’on puisse aussi me pardonner

ZAZ, Je pardonne, 2025

Über den Autor

Sebastian

Hallo, ich bin Sebastian und schreibe hier in loser Folge über Themen, die mich beschäftigen.

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von Sebastian
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